Transkulturelle Musikerziehung
(auch Transkulturelle Musikpädagogik oder Transkulturelle Musikvermittlung)
Seit 1996 geistert der Terminus "Transkulturelle Musikerziehung" durch den musikpädagogischen Blätterwald (Link). Durch die "Transcultural Music Studies" (Bezeichnung eines neuen Studienganges und Instituts in Weimar) hat er 2012 einen neuen Aufschwung genommen. Tiago de Olivera Pinto und Eva-Maria von Adam-Schmidtmeier haben 2012 einen programmtischen Aufsatz geschrieben "Transkulturelle Musikpädagogik: ein Dialog mit den Transcultural Studies" (Link hier), zu dem 2013 in Detmold eine Tagung durchgeführt worden ist (vgl. mein Stellungnahme: Link hier!). Mit Rückgriff auf Wolfgang Welsch's philosophische Feststellung, "unsere Gesellschaften" seien transkulturell und die Transkulturalität gehe auch quer durch jeden einzelnen Menschen, wird das ursprüngliche Konzept der Interkulturellen Musikerziehung, das von einer Interaktion verschiedener (als homogen gedachter, nach Welsch "kugelförmiger") Kulturen ausgeht, in Frage gestellt. Die "Multikulturelle Musikerziehung", die Wolfgang Martin Stroh 2001 propagierte, hatte dieselbe kritische Stoßrichtung, unterliegt aber heute dem Diktum "Multikulti ist mausetot" (Angela Merkel), dem "Multikulti-Irrtum" politischer Gutmenschen (Seran Ateş), und ist dem Vorwurf ausgesetzt, auch dies Konzept zementiere eine Vorstellung homogener Kulturen.
Vor allem außerschulische pädagogische Felder (Theaterpädagogik, Museumspädagogik, Konzertpädagogik, Sozialpädagogik) haben den Begriff "Erziehung" oder "Pädagogik" durch "Vermittlung" ersetzt. (Ich persönlich finde diesen Begriff angesichts einer konstruktivistischen Auffassung von Lernen und Verstehen unglücklich, denn der Begriff suggeriert, dass ein dem Lernenden und Verstehenden nicht ohne "Vermittlung" zugänglicher Gegenstand - sei es nun z.B. eine Oper oder sei es die Institution Oper usw. - eben vermittelt werden soll.) In diesem Zusammenhang ist auch von "Transkultureller Musikvermittlung" die Rede (u.a. von Heinrich Klingmann 2011 - Download hier ), ein Referat auf der Tagung "Transkulturelle Musikvermittlung" 2011 in Oldenburg (Tagungsbericht).
Aus folgenden Gründen hat jedoch die theoretische Diskussion, ob sie sich nun direkt auf Welsch bezieht oder mit neueren Begriffen operiert, für die Praxis der Musikerziehung und Musikvermittlung keine gravierenden Konsequenzen:
- Entweder geht des der transkulturellen Musikerziehung oder -vermittlung einfach darum, in einem schülerorientierten Unterricht zu berücksichtigen, dass die Schüler/innen in einer transkulturellen Gesellschaft leben, für diese Gesellschaft ausgebildet werden sollen und selbst transkulturell sind. Das allgemeine Ziel der Interkulturellen Musikerziehung gilt in diesem Fall ohne weitere Modifikation: "Das allgemeine Ziel der IME (das heißt der interkulturellen Musikerziehung im Unterricht an allgemeinbildenden Schulen) wird abgeleitet aus einem allgemeinen emanzipatorischen Ziel pädagogischen Handelns. Es lautet: Die aktive, bewusste, selbstbestimmte und sozial verantwortete Lebensfähigkeit in der (multi- oder transkulturellen) Bundesrepublik, also heute in einer Migrationsgesellschaft, sowie einer sich zunehmend globalisierenden Welt". Musikspezifisch gewendet: "...die Fähigkeit, in dieser Gesellschaft aktiv, bewusst, selbstbestimmt und sozial musikalisch tätig zu sein".
- Oder die transkulturelle Musikerziehung bzw. -vermittlung bevorzugt alle jene Themen, die musikalisch hybrid sind, die Grenzüberschreitungen aufzeigen, die einfache "monokulturelle" Erklärungsmuster, Zuweisungen oder Selbstdefinitionen de-konstruieren, die vieldeutig sind, Fragen aufwerfen, zum Experimentieren auffordern und damit - womit man wieder beim allgemeinen Ziel der IME ankommt - aktive, bewusste, selbstbestimmte und sozial verantwortete musikalische (Lern-) Tätigkeit erfordern.
Bisweilen werden diese beiden Aspekte auf die kurze Formel gebracht "Transkulturell Musik unterrichten und transkulturelle Musik unterrichten".
Die Aussage, dass jeder einzelne Mensch einer transkulturellen Gesellschaft transkulturell sei, ist ein Credo seit Welsch. (Wir übergehen den Einwand, dass dies eher ein Wunschtraum als Realität ist.) Mit dieser Feststellung allein ist es pädagogisch aber nicht getan. Denn erstens weiß die "Migrationshintergrunds-Forschung", dass es recht unterschiedliche Migrantenmilieus gibt und darin nur einige wenige als "transkulturell" bezeichnet werden können (Link hier). Das bedeutet, dass die Gesellschaft als ganze zwar vielfach gegliedert ist, nicht jedoch die Untergliederungen selbst es sind. Auch die Durchlässigkeit zwischen diesen "Milieus" ist oft geringer als es die Vokabel "trans-kulturell" suggeriert. Und zweitens weiß man, dass nicht wenige transkulturelle Menschen mit ihrer Transkulturalität nicht gut zurecht kommen (faktisch also multikulturell sind) und/oder darunter leiden. Nicht jede/r kann so stolz sein wie die Berliner Rapperin AzizA von "den beiden Kulturen, in denen ich aufgewachsen bin" singen und ihrer Fähigkeit, sich aus jeder "das, was AzizaA für richtig hät" auszuwählen (vgl. mein Video hier!) . Nicht alle sind in der Lage, mit sich und ihrer transkulturellen Umgebung - die ihnen als diffuser Supermarkt von Angeboten vorkommt, innerhalb derer sie sich nicht orientieren können - aktiv, bewusst, selbstbestimmt und sozial umzugehen. Daher muss sich die Transkulturelle Musikerziehung und -vermittlung die Frage stellen, welche Art transkultureller (Schüler-)Persönlichkeit sie als Zielmarke vor Augen hat. Weitere Information hierzu bei den "Modellen interkultureller Musikerziehung": Link hier!
Ein weiterer Grund, weshalb die konsequent transkulturelle Idee in den vergangenen 20 Jahren kein musikpädagogisch eigenes Profil gewinnen konnte, liegt darin, dass ihre Stärke die De-Konstruktion (von Zuweisungen, Abgrenzungswünschen - Otherings -, Vorurteilen, Vereinfachunghstendenzen etc.) ist. Im Sinne der kritischen Musikerziehung und der konstruktivistischen Pädagogik ist dies zwar ein wichtiger Prozess, er ist aber hilflos, wenn er nicht mit der Perspektive einer Konstruktion erfolgt, wie sie in den oben genannten allgemeinen Zielen der Interkulturellen Musikerziehung formuliert ist.
Da der allgemeine Sprachgebrauch oft über wissenschaftliche Diskurse großzügig und beharrlich hinweggeht, ist in Deutschland die Bezeichnung "Interkulturelle Musikerziehung" und in den angelsächsischen Ländern die Bezeichnung "Multicultural Music Education" noch immer eine Art (bedeutungs unscharf gewordene) Gesamthülle, für alles, was sich mit trans-, multi- und interkulturellen Fragen beschäftigt. Eine Auflösung des Terminologie-Wirrwarrs habe ich im Wikipedia-Artikel versucht (hier).