Informationen, Konzepte und Materialien zum Interkulturellen Musikunterricht
"Ist Multikulti mausetot?" Von 1990 bis 2024
Multikulti auf christlich
"Der Islam gehört zu Deutschland", hat der nach kurzer Amtszeit zurück getretene Bundespräsident Wulff gesagt.
Zeitgleich sagte Merkel auf dem Delegiertenkongress der Jungen Union
2010: "Der Ansatz für Multikulti ist gescheitert,
absolut gescheitert". Sie stellte sich damit hinter einen Siebenpunkte-Plan von Horst Seehofer, in dem es hieß: ""Wir als Union treten für die deutsche Leitkultur und gegen Multikulti ein - Multikulti ist tot" und weiter "Deutschland ist kein Zuwanderungsland. Integration bedeutet nicht nebeneinander, sondern miteinander leben auf dem gemeinsamen Fundament der Werteordnung unseres Grundgesetzes und unserer deutschen Leitkultur, die von den christlich-jüdischen Wurzeln und von Christentum, Humanismus und Aufklärung geprägt ist".
Was verstand die Bundeskanzlerin Merkel unter dieser Aussage bzw. unter Multikulti?
Die Vorgeschichte (bis 2010)
Heiner Geißlers (ein sanfter Querulant innerhalb der CDU) schrieb 1991 in dem Sammelband Multikultopia: "Außerdem geht es nicht darum, ob wir eine multinationale und.
multikulturelle Gesellschaft wollen: wir haben sie bereits. Die Frage ist nicht mehr, ob wir mit Ausländern zusammenleben wollen, sonderen nur noch, wie wir mit ihnen zusammenleben werden" (S. 79). 1990 wurde in Frankfurt das (heute noch bestehende) "Amt für Multikulturelle Angelegenheiten" eingerichtet. 1991 erschien im (linken) Rotbuch-Verlag das Buch Krieg in den Städten. Jugendgangs in Deutschland mit einem ausführlichen Kapitel über "Multikulturelle Streetgangs". Mitte der 1990er untersuchte Wilhelm Heitmeyer, der für die "Shell Jugenstudien" bekannt ist, nicht nur die rechtsradikale Szene, sondern "entdeckte" auch den muslimischen Fundamentalismus. Er prägte den Begfriff "Parallelgesellschaft".
Im Schatten des von der "offiziellen Politik" fest gezurrten Schreckgespensts "Parallelgesellschaft" (= 2004 zweites "Wort des Jahres") wurden die 11 Morde, die ab 2011 (nach Merkels "mausetot-Rede"!) dann endgültig dem "Nationalsozialistischen Untergrund" zugeschrieben wurden, als Morde innerhalb der kriminellen Parallelgesellschaft. interpretiert. Die NSU-Prozesse bewiesen die systematische Blindheit von Polizei und Politik gegenüber dem, was sich in Deutschland abspielte.
2001 prägte ich den Begriff "Multikulturelle Musikerziehung" in Anlehnung an "Multicultural Music Education" in den USA. Ab jetzt wird zwischen inter-, trans- und multikulturell unterschieden. Der "interkulturelle" Unterricht hat das Ziel der Kommunikation kulturell unterschiedlich geprägter Schüler*innen (Irmgard Merkt 1993), ein "transkultureller" Unterricht zielt auf die Weiterentwicklung des "Eigenen" durch das "Fremde" (Volker Schütz 1997), während der "multikulturelle" Unterricht eine aktive, bewusste, selbstbestimmte und soziale Lebensfähigkeit in der multikulturellen Bundesrepublik zum Ziel hat (Wolfgang Martin Stroh). Details siehe hier.
Nach langem Ringen mit dem CDU-dominierten Bundesrat brachte die Rot-Grüne Regierung unter Schröder im Jahr 2006 endlich ein "Zuwanderungsgesetz" (das die Bezeichnung "Einwanderung" vermied) auf den Weg. Dadurch wurden eine Reihe von Integrations-Maßnahmen fest geschrieben, die bis heute zum Credo der Politik jedweder Couleur gehören. Damit war "Multikulti" im allgemeinen Sprachgebrauch gestorben. Um 2004 legten (bis auf Claudia Roth) auch die Grünen die Bezeichnung "Multikuli" ad acta: "Das Wort Multikulti wird kaum noch benutzt", sagt Katja Husen, frauenpolitische Sprecherin der Partei. "Es klingt so verspielt, aber Integration ist kein Spiel." Diese Position ist Mainstream in der Grünen-Spitze. "Wir wollen keinen Multikulturalismus, wenn das heißt, jeder kann machen, was er will", sagt Bundesvorstandsmitglied Omid Nouripour. (Zitate aus dem SPIEGEL.)
Die deutsch-türkische Rechtsanwältin Seyran Ateş
schrieb 2007 das Buch Der Multikulti-Irrtum, in dem sie kritisierte, dass die deutsche Justiz gegenüber Zwangsheirat und ähnlichen, mit dem Grundgesezt nicht-kompatiblen Praktiken inkonsequent vorgehe: "Es ist aber nicht richtig, vorhandenen Gesetze, die Allgemeingültigkeit besitzen, nach ethnischen Kriterien unterschiedlich anzuwenden" (S. 264). Ihr Fazit ist aber nicht eine generelle Ablehnung von Multikulturalismus sondern einanderes Verständnis im Sinne der Förderung von transkulturellen Identitäten. Heute ist Ateş bekannt dafür, dass sie eine Moschee nach "westlichen Werten" in Berlin betreibt (Internetplattform). Ähnliche Gedanken hat Necla Kelek (vor allem mit Bezug auf Zwangsheirat im 2005 erschienenen Buch Die Fremde Braut) geäußert. Sie war anfangs auch Mitglied in Wolfgang Schäubles "Islam-Konferenz", die sie aber dann aus Protest verließ.
Claus Leggewie in multikulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik (Rotbuch 1991): Drei Modelle einer Vielvölkerrepublik:
"Kulturelle Apartheit": Die Herkunft wird verabsolutiert und in Hierarchien geordnet. ("Was früher Rassen hieß, heißt jetzt Kulturen...")
"Integration": Ethnische Minderheiten, egal ob Zuwanderer oder Ureinwohner, gruppieren sich um eine kulturell definierte Mehrheit herum und "verschwinden" nach spätestens drei Generationen. Die Mehrheitskultur definiert sich mittels eines "universalen Menschheitspathos".
"Multikulturalismus": Eine Gesellschaft ohne kulturelles Zentrum und ohne hegemoniale Mehrheit. Die Gesellschaft ist Spiegelbild einer "Weltgemeinschat, in der es kein dominantes kulturelles Muster mehr gibt."
Die Geschichte von 2010 bis 2020
2011 erscheint der Sammelband Multikulti Kulltur 2.0 - Willkommen im Einwanderungsland Deutschland, herausgegeben von Susanne Stemmler. Der Rote Faden für "Multikulti" ist die Anerkennung von Deutschland als einem Einwanderungsland. Die Beiträge gehen auf den Berliner Kongress "Beyond Multiculturalism" aus dem Jahr 2009 zurück. Grundlegend ist ein konstruktivistischer Kulturbegriff (wie ihn Dorothee Barth 2006 als "bedeutungsorientiert" bezeichnet hat). Darauf aufbauend wird der Begriff "'Multikultur' vorgeschlagen: Kultur wird in diesem Falle verstanden als die Multiplizität und Mannigfachigkeit, etwas, das praktiziert, stes neu hergestellt und erfunden wird" (S.21).
Ende 2015, nach ein paar Monaten "Flüchtlingskrise", hat sich die Integrations-Euphorie verstärkt.
Am 2.2.2016 sagt das Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft, dass die Integration den Steuerzahler 5 Milliarden kostet.
2018 ist zum Thema "Integration" das Buch Des-Integriert
Euch! von Max Czollek erschienen. Hier wird die bemerkenswerte
These vertreten, dass der aktuelle Rassismus und Antisemitismus durch den
"Integrations-Hype" und (im Falles des Antisemitismus) das
deutsch-jüdische "Gedächtnistheater" verursacht ist. Auch der
geliebte Begriff der "Heimat" kann zumindest als Symptom, wenn nicht
bereits als Mitverursacher von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, sowie
der Angst vor Multikulti interpretiert werden. - Im selben Jahr wird Horst Seehofer Innenminister und nennt sich nun "Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat". Die Bezeichnung wird 2021 unter Rot-Grün-Gelb i.w. beibehalten ("Bundesministerin des Innern und für Heimat").
Der 12. Bericht der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration (für den Zeitraum 2016-2019) spiegelt das widersprüchliche Gegenüber von Multikulti und Integration durchaus wider. Im Titel heißt es "Deutschland kann Integration: Potenziale fördern, Integration fordern, Zusammenhalt stärken", also lauter Begriffe, die weit von einer Vorstellung von Multikulti entfernt sind. Im Innern des Berichts jedoch werden multikulturelle Ideen verbreitet und dann immer wieder integrativ liquidiert. Die Umschreibung für Multikulti heißt hier "Vielfalt stärken" und "Teilhabe gelingt durch interkulturelle Öffnung". Letztere wird aber weitgehend so verstanden, dass die Fremden die deutschen Wertekultur verstehen und akzeptieren sollen. Davon, dass die deutsche Wertekultur sich durch eine Auseinandersetzung mit dem Fremden weiter entwickeln und verändern könnte, ist nirgends die Rede.
Der Nationale Aktionsplan von 2020 kennt fünf "Phasen" der Integration:
Phase vor der Zuwanderung: Erwartungen steuern – Orientierung
Phase der Erstintegration: Ankommen erleichtern – Werte vermitteln
Phase der Eingliederung: Teilhabe ermöglichen – Leistung fordern und fördern
Phase des Zusammenwachsens: Vielfalt gestalten – Einheit sichern
Phase des Zusammenhalts: Zusammenhalt stärken - Zukunft gestalten
Die Leitkultur-Debatte, die offiziell 2020 als beendet galt, lebt in folgenden Vorstellungen fort: "Kultur trägt neben der sozialen Integration und der Integration in Arbeit wesentlich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt bei. Kulturinstitutionen vermitteln Geschichte und Gegenwart Deutschlands und ermöglichen eine Auseinandersetzung mit den Werten der Gesellschaft – wir setzen auf die Vermittlungskraft von Kultur", weshalb es logisch ist, wenn es weiter heißt "Kultur ist identitätsbildend und leistet einen Beitrag zur Integration" (aus den 15 Thesen Zusammenhalt in Vielfalt.) Von "Vielfalt" ist hier nirgends mehr die Rede!
Die (versteckte) Multikulti-Diskussion seit 2020
2021 Wahlprogramm der Grünen: "Um Diskriminierung systematisch abzubauen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu fördern, wollen wir die Themen und Zuständigkeiten, die Gleichberechtigung und Teilhabe an der offenen und vielfältigen Gesellschaft betreffen, bei einem Ministerium bündeln. Dazu werden wir die Aufgaben zur Einwanderungsgesellschaft aus dem Innenministerium herauslösen". - Diese Passage und dies Ansinnen wird von CDU-Seite als "Wir brauchen kein grünes Multi-Kulti-Ministerium" kolportiert (Die WELT 4.8.2021). Mit anderen Worten, das Schreckgespenst "Multikulti" tut noch seineWirkung.
Es gibt noch weitere Anzeichen dafür, dass das Integrations-Konzept als Gegenspieler der Multikulti-Idee nicht das erbringt, was es erbringen sollte: Beharrlich bleibt Deutschland in Sachen Bildungsgerechtigkeit international zurück. Für Menschen mit Migrationshintergrund sind die Bildungschancen immer noch signifikant gering. (Allerdings sagen die Statistiken, dass dies weniger am Migrationshintergrund als solchem sondern an der sozialen Schicht derer liegt, die einen Migrationshintergrund haben.) Ein anderes Anzeichen für gescheiterte Integration ist die Tatsache, dass es dem türkischen Präsidenten Erdoğan gelingt, in Deutschland ein Stück "islamische Türkei" zu betreiben. Bei allen bisherigen Präsidentenwaheln (einschließlich 2023) haben die Deutschtürk*innen Erdoğan mehr unterstützt als ihre Verwandten in der Türkei selbst. Und es ist den kopftuchtragenden türkischen Frauen auch gelungen, sich als von der Weißen Mehrheitsgesellschaft rassistisch (islamophob) Verfolgte zu präsentieren und die Hardliner des Anti-Rassismus hinter sich zu bringen.
"Multikulti" ist im Zeichen des "racial turns" und der post-kolonialen Diskussion um strukturellen Rassismus sowie des Phänomens "Kultureller Aneignung" erneut bei der Mitte der Gesellschaft in Verruf geraten. Die Hardliner dieser Theorie sehen sich als die wirklichen Erfüller von Multikulti. Sie gehen von einem eng gefassten Begriff von "Kulturen" aus, woraus sich auch "Multukulti" als das ergibt, was Welsch ein "Durcheinander von Monaden" nannte, d.h. ein Durcheinander relativ beziehungslos und geradezu feindselig durcheinander her schwirrenden Einheiten. Man kann diese Vorstellungen allerdings auch als "Kampfansage" angesichts von "strukturellen" Diskriminierungs-Erfahrungen und damit als Zeichen einer gescheiterten Integration im Sinne der Gleichberechtigung aller Bürger*innen verstehen. Mehr dazu unter "Multikulturelle Musikerziehung" sowie "Anti-Rassistsiche Interkulturelle Musikerziehung".
2023/2024 reaktiviert die CDU die Idee der "Leitkultur" als Gegenstück zu Multikulti:
Zeitgleich stellt die grüne Staatsministerin Claudia Roth den Entwurf eines "Rahmenkonzepts Erinnerungskultur" vor, in dem gefordert wird, die deutsche Erinnerungskultur nicht nur für
Bürger/innen ohne Migrationshintergrund zu denken, sondern auch zu berücksichtigen, dass fast 30% der deutschen Bürger/innen sich eher an die eigene Migrationsgeschichte
und weniger an das Dritte Reich und die Shoa erinnern. (Zudem schlägt Roth vor, in die Erinnerungsarbeit auch den deutschen Kolonialismus mit einzu beziehen.) Das
Papier aus dem Staatsministerium für Kulturelle Angelegenheiten wurde im Februar 2024 kurzzeitig online gestellt und ist dann aber wieder unauffindbar verschwundden.
Im Mai 2024 machte die Empörung des Zentralrats der Juden und der Gedenkstättenleiter/innen über dieses Papier in der Presse die Runde, ohne dass der Rahmenkonzept-Entwurf mehr öffentlich
zugänglich war. Es entspann sich eine typische Medienkampagne über etwas, was niemand kannte bzw. zur Kenntnis nehmen konnte.
Es schien, dass das Böse gebannt ist, wenn man es verheimlicht und zugleich beschimpft. Wir veröffentlichen hier den Entwurf des Rahmenkonzepts Erinnerungskultur vom Februar 2024 im vollen Wortlaut.