"...sollen wir denn immer noch syrische Kinderlieder singen?"
Ja, wir sollen immer noch syrische Kinderlieder singen. Und noch mehr, auch andere Lieder aus Ländern, gegen deren Menschen
es in der Bundesrepublik weit verbreitete Vorbehalte gibt. Der pädagogisch inszenierte Umgang mit Musik aus fremden Ländern und fremden
Kulturen ist nach wie vor eine ideale Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen für ein aktives, bewusst gestaltetes, selbstbestimmtes und
soziales Leben in der mutikulturellen Gesellschaft. Mehr noch, er befähigt Kinder und Jugendliche dazu, bei der Gestaltung einer multikulturellen
und offenen Gesellschaft mit zu wirken.
Das Fremde und Unbekannte macht Angst und weckt Neugier. Es ist eine alte Formel, die aber 2023 wieder sehr aktuell ist, wonach
es eine Aufgabe der Interkulturellen (Musik-)Erziehung ist, Angst in Neugier zu verwandeln. (Hierzu ein aktueller Beitrag von mir in
einer polnischen Zeitschrift: "Die Angst vor dem Fremden 2021".) Gerade mit musikalischen
Mittel geht so etwas sehr gut und ist zudem noch mit Lustgefühlen verknüpft. Auch Verschwörungstheorien oder Anfälligkeit für
dumpfen Populismus gedeihen nur auf der Basis von Angst. Der Musikunterricht ist daher auch ein Ort, an dem Verschwönrungstheorien und Populismus
entgegen gewirkt werden kann, indem deren Basis, die Angst vor dem Fremden und Unbekannten, bearbeitet und in Neugier und Freude verwandelt wird.
(Übrigens kann auch der Antisemitismus zu den populistischen Verschwörungsmythen gerechnet werden, gegen die ich die Behandlung von
Klezmermusik als "Heilmittel" propagiert habe - siehe meine Beiträge zur Holocaustpädagogik und zu Klezmermusik.)
Mit diesen Vorbehalten kann der folgende Text aus dem Jahr 2016 mit wenigen Ergänzungen von 2024 gelesen werden:
2015 kamen 325 000 schulpflichtige Flüchtlingskinder nach Deutschland und im Februar 2024 befanden sich 265.000 ukrainische Kinder an deutschen Schulen.
Drei Praxisfelder sind hierbei zu unterscheiden:
- die pädagogische und gegebenenfalls musikalische Betreuung von Flüchtlingskindern und -jugendlichen jenseits von Schule (in Lagern, Heimen,
Freizeit etc.), auch in spezifischen "Projekten",
- die pädagogische und gegebenenfalls musikalische Betreuung von Flüchtlingskindern und -jugendlichen in Sprach- und Integrationsklassen, in
denen nur Flüchtkingskinder und -jugendliche sind,
- der Musikunterricht an allgemeinbildenden Schulen (gegebenenfalls auch Kindergärten und Kitas), in dem Flüchtkingskinder und -jugendliche
anwesend oder auch abwesend sein können, sowie Projekttage an allgemeinbildenden Schulen, die sich Themen wie "Willkommenskultur" etc. widmen.
Im Folgenden soll ausschließlich vom 3. Praxisfeld, dem Alltag des Musikunterrichts an allgemeinbildenden Schulen, die Rede sein.
Denn erstens ist dies das Kerngebiet der Interkulturellen Musikerziehung und zweitens hatten 2023 die allermeisten nicht-ukrainischen Flüchtlingskinder
Heime, Wilkkomensklassen etc. bereits verlassen und befinden sich im "normalen" Unterricht.
Zweierlei Adressatengruppen, zweierlei Ziel - in einem Unterricht!
Obgleich sich viele Musiklehrer/innen Gedanken darüber machen, ob und wie sie Flüchtlingskinder und -jugendliche musikalisch "ansprechen"
sollten, darf doch die wichtige Adressatengruppe eines interkulturellen Unterrichts auch im Jahr 2018 nicht vergessen werden: die "deutsche" Schülerschaft
ohne direkte Fluchterfahrung. Während es
- mit Bezug auf die Flüchtlingskinder und -jugendliche um soziale Integration, die Stärkung von Selbstbewusstsein usw. geht, gelten
- mit Bezug auf die Schüler/innen ohne Fluchterfahrung die allgemeinen Ziele Interkultureller Musikerziehung (siehe auch Abstract).
Daher folgen einige Überlegungen unterteilt nach diesen beiden Adressatengruppen.
Die Flüchtingskinder und -jugendlichen ("Kinder und Jugendliche mit Fluchterfahrung")
(Stichwort: Integration oder Teilhabe) Die neu nach Deutschland gekommenen Kinder und Jugendliche sollen ja "integriert" werden.
Mit dem Zauberwort "Integration" jedoch sind jene Ziele angesprochen, die in unserem "Abstract"
formuliert worden sind: Integration heißt die Fähigkeit zu erwerben, "aktiv, bewusst, selbst bestimmt und sozial im
multikulturellen Deutschland" lebensfähig zu sein. Das bedeutet, dass ein Beitrag des Musikunterrichts zu einer solchen
Integration sein muss, dass die Kinder und Jugendlichen die "multikulturelle Republik" in ihrer (musikalischen) Diversität
erleben und gestalten können, dass sie musikkulturelle Handlungsfähigkeit erwerben sowie in der Schule erfahren, was (musikalische) Selbstbestimmung bedeutet.
(Stichwort: Traumatisierung) Wenn wir davon ausgehen, dass die Kinder, die jetzt in der multikulturellen Schulklasse sitzen, traumatisiert und kulturell möglicherweise des-orientiert sind, dann könnte der Musikunterricht zusätzlich eine sozialtherapeutische Komponente haben. Dann könnte es in der Tat von großer Bedeutung sein, ob die Lehrerin ein Lied, das das Kind vor seinen traumatischen Erlebnissen gekannt, gesungen und geliebt hat, kennt und singt. Die Methode, Kinder "ihre Musik" vorsingen zu lassen, hat sich in der Vergangenheit nicht bewährt und sollte jetzt nicht umstandslos angewandt werden. Es sei denn, die Kinder fangen von sich aus an, "ihre Musik" dar zu bieten. Dies setzte voraus, dass alle Kinder der Klasse "ihre Musik" vorstellen wollen und können - und dies setzt wiederum voraus, dass die Kinder überhaupt wissen, was "ihre Musik" ist. Bekanntlich wird aus solch einem Ansatz schnell eine umfangreiche Unterrichtseinheit.
(Stichwort: Ausgrenzung) Es gibt noch einen weiteren Grund, mit dem Singen, Spielen und Einstudieren "syrischer Lieder" [dies nur als Schlagwort!] vorsichtig zu sein. Ein Problem der Flüchtlingskinder und -jugendlichen ist ja die Rollenzuweisung als "fremd" und "Flüchtling". In der interkulturellen Pädagogik wird vor solchen Zuschreibungen, die dann schnell auch in Selbstzuschreibungen umschlagen, gewarnt. (Man lese den Aufsatz von Dorothee Barth "'In Deutschland wirst du zum Türken gemacht!' oder: Die ich rief, die Geister, werd‘ ich nun nicht los. Von der projektiven zur inszenierten Ethnizität": Download hier!) Das Wichtigste für die Flüchtlingskinder und -jugendlichen ist der Blick nach vorn, die Perspektive, nicht der Blick zurück, die Retrospektive. Hierzu haben sie alle ja eine gehörige Portion "Hoffnung" investiert und Risiko in Kauf genommen.
Dennoch hat sich bereits im Laufe des Jahres 2016/17 gezeigt, dass viele Flüchtlingskinder und -jugendliche mit großem Engagement Musik ihrer "Heimat" hören und anderen (mit)teilen. Trotz aller Erlebnisse, die mit der "Heimat" verbunden sind, erscheint diese doch sehr oft in einem rosig-verklärten Licht. Dies geht aus zwei Publikationen hervor, die Anfang 2017 erschienen sind: Kilian Kleinschmidt & Jenny Schuckardt "Beyond Survival. Flucht. Ankunft. Zukunft. Kinder erzählen ihre Geschichte" (DuMont, München 2016); Julia Erche & Alexander Jansen "Ich habe meine Musik mitgebracht. Lieder, Spiele und Geschichten von Flüchtlingskindern" (Don Bosco, München 2017). Andere Untersuchungen (beispielsweise eine von Nele Bicker in Osnabrück durchgeführte Befragung) weisen darauf hin, dass es neben einem "rosig-verklärten" Heimatbegriff einen zweiten gibt, der sich auf konkrete Kriegs- und Gewalterfahrungen bezieht: so haben dieselben Jugendlichen arabische Popmusik von Fairouz als "gut" bezeichnet (= rosig-verklärte Heimat) und einen stilistisch ähnlichen Popsong aus den Anfangsjahren der Arabellion als "schlecht" (= konkrete Heimat). In Sprachkursen mit ukrainischen Kindern 2022 wurde beispielsweise das Lied "Oy U Luzi Chervona Kalyna" mit fast militanter Begeisterung gesungen.
Ich empfehle zur Auflockerung der Theorie jetzt schon mal die Seiten
anzusehen!
Die "deutschen" Kinder und Jugendliche ohne eigene Fluchterfahrung
("Anti-rassistische Ziele") Unter "anti-rassistischen Zielen im weiteren Sinne" verstehe ich die pädagogische Auseinandersetzung mit der Angst vor etwas Fremdem, mit den daraus resultierenden Verhaltensunsicherheiten und mit der Schwierigkeit von Kindern und Jugendlichen, ungewohnte kulturelle Verhaltensweisen zu akzeptieren und/oder sich dafür zu interessieren. An eine Idee aus der alten Diskussion um interkulturelle anti-rassistische Erziehung in Deutschland kann man wieder anknüpfen: die Angst vor dem Fremden, die eine akzeptable Reaktion ist, soll durch die Neugier an etwas Ungewöhnlichem und einem grundsätzlichen Interesse von Kindern und Jugendlichen an Neuem verarbeitet werden. Pädagogisch vollkommen kontraproduktiv erscheint mir die "offensive" Attacke gegen Ausländerfeindlichkeit und den alltäglichen Rassismus, den die deutsche Politik und weite Teile der Öffentlichkeit führen. Selbst "Schulen gegen Rassismus" und ähnlich ehrenwert gemeinte Initiativen sind nicht unproblematisch, weil sie die Einen (den "Rassisten") mit ihren Ängsten nicht dort abholen, wo sie sind, und den Anderen (den "Gutmenschen") ein Ritual bieten, in dem sie sich gut und "politisch korrekt" vorkommen.
("Lebensweltbezug") Die Lebenswelt, auf die sich der (interkulturelle) Musikunterricht beziehen und auf die er vorbereiten soll, ist die einer multikulturellen Migrationsgesellschaft. In dieser Gesellschaft müssen alle Bürger/innen sich lebensang mit kultureller Vielfalt und dem Kommen und Gehen von Menschen aus aller Welt auseinandersetzen. Entscheidend für ein aktives, bewusstes, selbstbestimmtes und soziales Leben in solch einer Gesellschaft ist, dass man kulturelle Vielfalt nicht ablehnt oder ihr mit Abwehr begegnet, sondern sie als ein Potential betrachtet, von dem man profitieren und das man selbst mit gestalten und weiter entwickeln kann. Dasselbe gilt für Migration insgesamt, die Bürger/innen als Bestandteil der Globalisierung erfahren, von der alle profitieren und an der alle teilhaben. Im Musikunterricht sollten daher die attraktiven musikalischen Facetten kultureller Vielfalt und Globalisierung vorgestellt, erlebt und einem aktiven, bewussten, selbstbestimmten und sozialen Reflexionsprozess unterzogen werden.
Unterrichtsthemen und Methoden
Mit einigen Vorschlägen möchte ich diskutieren, wie Musiklehrer/innen mit Flüchtlingssituationen wie 2016/17,
deren Folgen 2019 sowie erneut 2022/23 umgehen können. Dabei gilt die Regel, die auch für jegliche interkulturelle Musikerziehung gilt: solche Konzepte sind unabhängig davon, ob sich Flüchtlingskinder in der Klasse befinden oder nicht. Sie richten sich "an alle". Diese Regel hat auch den Vorteil, dass die Flüchtlingskinder, die sich unter den Schüler/innen befinden mögen, nicht erst zu Flüchtlingen "gemacht" werden, sondern als neue, wenn auch noch unsichere Mitglieder unserer Gesellschaft behandelt werden. Bisweilen können sie als "Expert/innen" in Erscheinung treten, aber das soll ihnen frei gestellt und nicht das Ziel des Unterrichts sein.
Die Themen, die in den Vorschlägen angesprochen werden, sind überwiegend als "Projektionsflächen" zu betrachten. Das bedeutet, dass sie zwar auf dem Hintergrund der Flüchtlingsproblematik entwickelt bzw. gewählt worden sind, sie diese Problematik aber allenfalls indirekt ansprechen. Dadurch können die Schüler/innen - sowohl die Flüchtlingskinder und -jugendlichen als auch alle anderen - ihre persönlichen Ängste, Probleme und Fragen dann, wenn sie dies wollen und können, im Schutze solcher Themen artikulieren, ohne sich direkt und explizit als Person oder gar als Flüchtling artikulieren zu müssen. (Dies ist die "Rollenschutzthese" der Szenische Interpretation, die hier unabhängig vom szenischen Spielen angewandt wird.)