Der Umgang mit dem "Migrationshintergrund" 2024
2005 wurde der Mikrozensus derart umgestellt, dass nunmehr anstelle von Ausländern, von denen es 2021 etwa 11,4 Millionen in Deutschland gab, Personen „mit Migrationshintergrund“ erfasst wurden. Migrationshintergrund hatte definitionsgemäß eine in Deutschland lebende Person, wenn sie Ausländer/in ist oder eines der Eltern Ausländer ist oder im Ausland geboren wurde. Damit ist die zweite und dritte Gastarbeitergeneration (sofern die Eltern nicht eingebürgert sind) ebenso erfasst wie die Menge der Aussiedler, auch wenn diese Personen einen deutschen Pass besitzen.
Im Jahr 2016 wurde "Migrationshintergrund" neu definitiert: "Eine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt." Dadurch sind folögende Personengruppen erfasst:
- zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer,
- zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte,
- Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler,
- Personen, die die deutsche Staatsangehörigkeit durch Adoption durch einen deutschen Elternteil erhalten haben,
- mit deutscher Staatsangehörigkeit geborene Kinder der vier zuvor genannten Gruppen.
2019 hatten nach Zahlen des Mikrozensus 21,2 Millionen Menschen in Deutschland einen Migrationshintergrund, was 26,0 Prozent der Bevölkerung in deutschen Privathaushalten entspricht. Mehr als die Hälfte davon sind deutsche Staatsangehörige (52,4 Prozent). Der Anteil der ausländischen Staatsangehörigen beträgt damit 47,6 Prozent.
...aber:
- "Migrationshintergrund" sagt nichts über Lebensrealitäten aus: er gibt weder Auskunft über die soziale Lage, noch darüber, ob eine Person Diskriminierung erfährt. Viele Menschen sind Diskriminierungen ausgesetzt, auch wenn sie oder ihre Eltern nicht zugewandert sind.
- Der Begriff wird als stigmatisierend empfunden: "Migrationshintergrund" wird oft mit Problemen – etwa schlechterem Abschneiden in der Schule – in Zusammenhang gebracht. Viele Menschen, denen ein "Migrationshintergrund" zugeschrieben wird, empfinden das als stigmatisierend und ausgrenzend.
Die terminologische "Lifestyle-Diskussion" (oder die Profilierung der "Neuen deutschen Medienmacher"):
"Migrationshintergrund" ist ein Un- oder Tabu-Wort, soll vermieden werden. Die "Lifestyle-Linken" oder "ndm" (= Neue deutsche Medienmacher) schlagen für "Menschen mit Migrationshintergrund" folgende Alternativen vor,
- Einwanderer/in oder Nachkomme eine/r Einwanderer/in,
- Mitglied einer Einwandererfamilie,
- Menschen mit internationaler Geschichte oder
- Mensch mit Migrationserfahrung (sofern vorhanden).
Weitere Stilblüten sind: "türkeistämmig", "postmigrantisch", "Deutsche mit italienischen Vorfahren", "Mehrheimische". Alternativen für die statistische Erfassung des "Migrationshintergrund" wären Antworten auf die Fragen:
- "Wurden Sie in Deutschland oder im Ausland geboren?" – Falls Personen im Ausland geboren wurden, sind sie Einwanderer.
- "Wurden Ihre Eltern im Ausland oder in Deutschland geboren?" – Falls beide Eltern im Ausland geboren wurden, kommen Personen aus Familien mit Einwanderungsgeschichte oder sind Einwandererkinder.
Damit würden Personen, die nur einen ausländischen Elternteil haben, nicht als Zugewanderte gelten. So ist es auch in der PISA-Studie.
(Bis hierher stammen die meisten Zitate aus: https://mediendienst-integration.de/artikel/alternativen-zum-migrationshintergrund.html.)
Die Sinus-Studie zu "Migranten-Milieus in Deutschland" aus dem Jahr 2018, die überwiegend der Konsumartikel-Branche Deutschlands als Orientierungshilfe dienen soll, weist darauf hin, dass die weit verbeiteten pauschalen Kategorisierungen nicht mehr zutreffen: Man kann nicht mehr vom Herkunftsland auf das Milieu schließen - die Religion oder Religionszugehörigkeit (die im Mittelpunkt der Integrationskonferenzen der Bundesregierung steht) sei weit überschätzt - in den unterschiedlichen Milieus gibt es unterschiedliche Integrationsbarrieren - ein bikulturelles Selbstbewusstsein sei vorherrschend - Erfahrungen mit Ausgrenzung sind dennoch verbreitet, gehen aber von der Mehrheitsgesellschaft aus - die Leistungsverweigerer sind ebenso wie die Anhänger "vormoderner Traditionen" so etwas wie Randgruppen.
Das folgende Bild zeigt die von Sinus festgestellten "Migranten-Milieus" :
Für die Musikpädagogik sind nicht die Details von Sinus, jedoch das Gesamtphänomen der Differenzierung von Interesse. Die Schule und der Musikunterricht können nicht von irgendwie "homogenen" Schülergruppen nach dem Merkmal "Migrationshintergrund" oder "Einwandererfamilienmitglied" ausgehen. Die Thematisierung der Herkunfts-Musikkulturen der in einem Klassenzimmer versammelten Schüler/innen ist daher ja auch schon lange nicht mehr das zentrale Thema und eine zentrale Methode interkultureller Musikerziehung. Das auf der vorliegenden Site dargestellte Konzept (siehe Abstract, Methoden und Kriterien) geht ebenfalls einen anderen Weg. Dennoch ist wichtig, dass die Musiklehrer/innen sich bewusst machen, dass es im Hinblick auf den Migrationshintergrund im Prinzip vier Hauptgruppen gibt (wie sie Katrin Reiners bereits 2012 herausgearbeitet hat), deren Unterscheidung in einem schülerorientierten Unterricht relevant werden kann:
1. Schüler/innen, für die der Migrationshintergrund überhaupt keine Rolle mehr spielt, die sich also als monokulturell Deutsche präsentieren, für die beispielsweise das Herkunftsland der Vorfahren allenfalls ein Urlaubsreiseziel ist und die niemals auf die Idee kämen, sie seien etwas anderes als stink-normale Deutsche;
2. Schüler/innen, die sich als monokultuelle Ausländer fühlen und inszenieren unabhängig davon, ob sie darunter leiden oder das cool finden - in der Regel leiden sie unter etwas, was sie bewusst reproduzieren, weil sie ihr Leid cool finden -, die gleichsam in einer Parallelgesellschaft leben unabhängig davon, ob und wie sie die Vorteile der Mehrheitsgesellschaft zu nutzen und schätzen wissen;
3. Schüler/innen, die aktiv bikulturell oder multikulturell sind, die genau zwischen zwei Kulturen unterscheiden (können) und sich je nach Bedarf aus einer der beiden Kulturen bedienen, wobei der häufigste Fall der ist, dass ein Kind oder eine Jugendliche sich zu Hause der einen, in der Schule und im öffentlichen Raum der anderen Kultur zurechnet und beide Kulturen auch erfolgreich und selbstbewusst handhaben kann;
4. Schüler/innen, die man als transkulturell bezeichnen könnte, die sich zwar ebenfalls mehrerer Kulturen bedienen, dies aber nicht mehr bewusst tun, sondern auf der Ebene eines neuen, gemischten Stils, der ihr ganzes Leben prägt.