Wolfgang Martin Stroh (2007):
„Alles so schön bunt hier!“ Sichtung von Materialien zur interkulturellen Musikerziehung
Vorlage eines Aufsatzes in: Grundschule Musik 1/2007
Allgemeines
Interkultureller Musikunterricht ist wie jeder gute Unterricht schüler- und handlungsorientiert. In den 80er-Jahren stand die Schülerorientierung im Vordergrund des pädagogischen Interesses (in Westdeutschland). Die „interkulturelle Kommunikation“ unter den Schüler/innen einer ethnisch inhomogenen Klasse sollte gefördert werden. In den 90er-Jahren kam aufgrund der politischen und sozialen Probleme im vereinten Deutschland - Stichwort: Gewalt und Fremdenfeindlichkeit - das Lernziel der Toleranz und des Anti-Rassismus dazu. Interkulturelle Erziehung wurde zu einem allgemeinen Prinzip des Musikunterrichts unabhängig vom Kulturmix in der Klasse und zu einem „Weg zu sich selbst“. In jüngster Zeit spielt ein medienpädagogischer Aspekt eine Rolle. Während die Kinder zu Hause Multikulturalität primär als unverbindlich bunte Medieninszenierung erleben, sind sie in der Schule mit „echtem“ Multikulti und all seinen zwischenmenschlichen Problemen konfrontiert.
Im Grundschulalter vollzieht sich bei Kindern ein Wandel von einem relativ offenen Musikgeschmack, der zugleich aber unverbindlich ist, zu einem engen „musikalischen Weltbild“, das individuell bedeutsam ist. Fördert der Musikunterricht musikbezogene Offenheit und Toleranz, so sinkt die Musik zur Bedeutungslosigkeit ab. Will der Musikunterricht indessen subjektiv bedeutsam werden, so muss er die Erwartungen und Sehnsüchte der Kinder berücksichtigen. Und diese sind keineswegs von Toleranz gezeichnet. Interkulturelle Musikerziehung weist einen Weg aus diesem Dilemma. Die Kinder erwarten vom Musikunterricht ja die Erfüllung ihrer musikbezogenen Sehnsüchte und Wünsche, die meist auf den kurzen Nenner „aktiv mit Musik umgehen“ gebracht werden können. Hinter dieser Erwartung steht letztendlich der Wunsch, sich sowohl „die Welt der Musik“ aneignen als auch mittels Musik „die Welt erobern“ zu können. Dies sind - in einem wörtlichen und einem übertragenen Sinne - die Zielkategorien interkultureller Musikerziehung.
Kriterien
Bezogen auf die interkulturelle Musikerziehung bedeutet „Aneignung von Musik und Welt“, dass
- die tatsächlichen Musikkulturen der Welt und nicht deren romantisch volkstümelnde Verklärung,
- die multikulturelle Vielfalt vor unserer Haustür in Deutschland und nicht die Exotik ferner Länder sowie
- die medial vermittelte globalisierte Weltmusik und nicht ein Bild des gegenüber böser Kommerzialisierung resistenten Authentischen
im Unterricht thematisiert werden sollten.
Bei der Suche nach geeigneten Inhalten, Methoden und Materialien bietet sich heute ein reichhaltiger Buch-, Platten-, Zeitschriften- und Fortbildungs-Markt an. Die interkulturelle Musikerziehung verlangt, dass diese Materialien folgendes leisten:
- (1) Griffige Information zum kulturellen Hintergrund, dem die Musik entstammt. Liegt solch eine Information nicht vor, dann bleibt das Fremde unbekannt, zufällig und unverbindlich.
- (2) Die Erörterung der konkreten Verwendungssituation des dargebotenen Liedes, Tanzes und der Musik. Weiß man nicht, wie gesungen, getanzt und musiziert wurde, so konstruiert man im Klassenzimmer musikpädagogischen Exotismus.
- (3) Die Erläuterung der Bedeutung eines Liedtextes und eines Tanzes. Kinder sind am Inhalt und weniger an der Form von Musik interessiert. Musikalische „Eroberung der Welt“ geschieht primär über die Bedeutung von Inhalten und sekundär über Strukturen, Kompositionsprinzipien, Tonhöhen, Rhythmen oder Noten.
- (4) Ein schonungslos realistisches Bild der fremden Musikkultur. Politisch unverantwortlich ist ein romantisches Bild einer zurück geblieben, heilen und „authentischen“ Welt. Der Grund dafür, dass gerade auch dort, wo Armut, Krieg und Hunger herrscht, Menschen auch musizieren, sollte diskutiert werden können.
- (5) Anknüpfungsmöglichkeiten an die multikulturelle Situation in Deutschland.
- (6) Ein aktuelles Niveau der Tonträger und Musikeinspielungen. Es sollte nicht aus Rücksicht auf Hörgewohnheiten die fremde Kultur klanglich „kolonialisiert“ werden.
- (7) Griffiges Material für handlungsorientiertes Erfahrungslernen.
Damit Handlungsorientierung nicht zu einem inhaltsleeren Singen, Spielen und Tanzen entartet, sollten bei allen Aktivitäten immer der Inhalt und die Kultur, um die es geht, präsent sein. Nach meiner Erfahrung hat sich hierbei folgende didaktische Hierarchie und zeitliche Abfolge im Unterricht am Besten bewährt[i]:
- Vor dem konkreten thematischen Einstieg steht eine „archetypische“ Basiserfahrung, meist ein körperlich vermittelter Rhythmus oder Klang.
- Der Einstieg in die Thematik erfolgt mit einem szenischen Spiel, durch das die Musik in einer charakteristischen Verwendungssituation erlebt wird.
- Anschließend ist Zeit für eine Informationsphase, in der das szenisch Gespielte verarbeitet wird. Der kulturelle Hintergrund der Inszenierung wird erklärt.
- Die Annäherung der szenischen Phantasien (Schritt 2) an die „wirkliche“ Situation (Schritt 3) geschieht als Präzisierung des szenischen Spiels durch Einstudierung charakteristischer musikalischer Elemente (Tanzschritte, Rhythmen, Melodien, Spielregeln) sowie genauerer Ausdrucksformen.
- Abschließend erfolgt eine neue „Inszenierung“ auf optimierter Stufe (Kleidung, Requisiten, selbst gebaute Instrumente, „professionellere“ Musik und Bewegung usw.) im Hinblick auf eine Veröffentlichung.
Musikschulbücher
Eine Untersuchung aller gängigen Grundschulmusikbücher von Daniela Benne[ii] aus dem Jahr 2005 hat ergeben, dass 22% der abgedruckten Lieder nicht-deutscher Herkunft sind und aus 47 Ländern stammen. 31 Länder sind mit ein oder zwei Liedern vertreten, die übrige Verteiulung zeigt das Diagramm[iii].
Stellt man dieser Torte diejenige der multikulturellen Zusammensetzung Deutschlands gegenüber, so ist leicht zu erkennen, dass die Schulbücher nicht auf die multikulturelle Situation Deutschlands und die „ethnische Situation“ im Klassenzimmer reagieren. Suchte eine Lehrerin beispielsweise ein Lied für die Mehrheit der Kinder der Berliner Rütli-Schule (Syrien, Libanon, Sudan), so würde sie in keinem Schulbuch fündig werden.
Noch gravierender als das Fehlen „wichtiger“ Länder im Liederkatalog der Schulbücher ist die Tatsache, dass die Lieder unzureichend kommentiert sind. Nur 12 von 1065 Liedern werden so dargestellt, dass andeutungsweise interkultureller Unterricht möglich ist. Die türkische Musik, die mit 14 verschiedenen Liedern vertreten ist, wird zwar am häufigsten kommentiert, scheint jedoch (mit Ausnahme im Schulbuch „Zauberklänge“) aus einem fernen Land und nicht aus der Kneipe von nebenan zu stammen.
Empfehlungen
Interdisziplinäre Materialien
Ganz oben auf der Liste brauchbarer Materialien zum interkulturellen Unterricht stehen die Bücher der Reihe „Auf den Spuren fremder Kulturen“ des Ökotopia-Verlages[iv]. Ein durchgängiges Merkmal dieser Bücher ist, dass sie die jeweils thematisierten Länder oder Weltregionen aus der Perspektive von Kindern sehr vielfältig angehen: Spiele, Gedichte, Sprüche und Reime, Märchen, Lieder und Tänze, Kleidung und Verkleidung, Feste und Feiern, Essen und Basteln, Instrumentenbau und Spielkonzepte.
Die Bücher wurden meist von einer Kulturwissenschaftlerin und einem Kinderliedermacher geschrieben (manchmal in Personalunion). Die letzteren bieten sich auch als multikulturelle Entertainer für Schulen an[v]. Die beigegebenen CD’s sind als Hörspiel („musikalische Weltreise“) gestaltet und haben auch ohne Buch einen Wert. Die Musik klingt mir aber allzu oft kindertümelnd. Sie geht zwar immer gut ab, klingt bestenfalls wie „König der Löwen“, regt aber nicht an, kulturell aufmerksam zuzuhören. Sie haben kaum fremdes Flair. Nur extrem selten verwenden die Tonträger Originalaufnahmen.
Um vor „Pannen“ im Unterricht gewappnet zu sein, müssen die musikbezogenen Sachaussagen der Autor/innen überprüft werden. Wenn beispielsweise im Australien-Buch „Didgeridoo und Känguru“ zum Bau eines 1 m langen und 4 cm breiten Didgeridoos geraten wird, so ist das sehr fahrlässig, da solch ein kurzes Rohre nicht klingt. Verwunderlich ist auch, dass in mehreren Tanzanleitungen eines auch in Deutschland sehr verbreiteten türkischen Patterns („Hinketanz“ mit 2+2+3 oder 2+2+2+3 Achteln) das Problem des überzähligen letzten Achtels einfach ignoriert und so getan wird, als ob man diese Musik ganz normal in 3/4 oder 4/4 „abtanzen“ könnte[vi]. Dies mag aber auch an der guten Idee liegen, dass das Wichtigste am Tanzen der allgemeine Gestus und nicht der „richtige“ Schritt ist.
Tänze und Spiele
„Originalmusik“ präsentieren die 2 CD’s, die Michael Hepp unter der Bezeichnung „Tänze im Kreis“ zusammengestellt hat (Fidula[vii], 1999). Hepp sagt, die von ihm gesammelten Tänze und Lieder gehörten zu den aktuellen Hits der „Volkstanz-Szene“. Während die CD’s überwiegend mitreißende Musik auf originalen Instrumenten bieten, sind die technokratischen Tanzschrittanleitungen des Buches nur für semiprofessionelle Vorführtanzgruppen zu gebrauchen. 50% der Liedtexte variieren das bei uns viel diskutierte Thema der Zwangsverheiratung junger Mädchen und der Vergewaltigung vor und in der Ehe. Mehrere stammen auch „aus Israel“ und handeln von der Wasserversorgung zionistischer Siedler, ein Problem, mit dem auch heute noch ein kalter, weitgehend unbeachteter Krieg Israels gegen Palästina geführt wird. Von solchen Inhalten ist in dieser Sammlung aber nirgends die Rede, weshalb die Musik als Warm-Up und nur nach intensiver privater Internet-Recherche in einem interkulturellen Unterricht verwendet werden könnte.
Corina Oosterveen bietet in „Tanzarello. Folk-Tanzen in der Grundschule“ (Fidula, 2006) eine durchdachte Hinführung von Kindern (und Musiklehrerinnen) zu intuitivem und musikalischem Tanzen. Sie knüpft an das Interesse von Kindern an, an der Welt der Erwachsenen teilhaben zu wollen. Daher wird auf Kinderspiele zugunsten „echter“ Tänze verzichtet. Nicht die Inhalte sondern die Methodik ist kindgerecht. - In „Jambo Afrika. Lieder, Tänze und Spiele“ (Fidula, 2006) versuchen Christoph Studer und Benjamin Mgonzwa die „afrikanische“ Einheit von Singen, (Körper-)Trommeln und Tanzen didaktisch umzusetzen. Dabei vermitteln sie eine wichtige Botschaft über Afrika ohne viel Worte. Das Konzept geht davon aus, dass die Basis des Tanzens ein Rhythmusgefühl des Körpers ist. Um diese Gefühl zu verinnerlichen schlagen sie unermüdlich abwechslungsreiche Übungen vor. Im Gegensatz zu den Büchern des Ökotopia-Verlages sind hier gezielt Musiklehrerinnen angesprochen, die etwas Professionalität im Unterricht anstreben.
Die „Bewegungshits von Moskau bis Marokko“ (Ökotopia, 2006) von Wolfgang Hering bieten ein alternatives „Tanzkonzept“. Kinderspiele, einfache Bewegungselemente, kleine rhythmische Aktionen mit Stimme und Körper sowie Sprachspiele werden geschickt miteinander verbunden. Die Spielkonzepte sind kulturell getönt und gerade so schwierig, dass es stets auch etwas zu lernen gibt. Die Texte verwenden wichtige Migrantensprachen (Russisch, Polnisch, Serbisch, Kroatisch, Italienisch, Spanisch und Türkisch) und sprechen gezielt Multikulti-Schulklassen an. Eine weiter gehend Information zum kulturellen Hintergrund der Musik bietet das Buch aber nicht. Die CD ist wie bei Ökotopia übluch als Hörspiel gestaltet und in Herings „Kindermusik-Studio“ produziert.
Liedersammlungen
Dem Problem, dass Kinderlieder und -tänze aus fremden Ländern von den in Deutschland lebenden Migrantenkindern nicht akzeptiert werden, hat die Kultur Kooperative Ruhr (Dortmund) schon vor 20 Jahren erkannt und darauf mit Feldforschung und interkulturellen Projekte reagiert. Die Liederbücher der Kultur Kooperative Ruhr präsentieren Lieder, die in Deutschland von Migranten(kindern) gesungen und akzeptiert werden. Sehr mitreißend „rüzgargülü“, ein zweisprachiges Buch des gleichnamigen Musikprojekts (1987, noch über Amazon erhältlich). Hier wie im mehrfach aufgelegten Liederbuch „Die Welt dreht sich“ kommt Live-Musik von Migranten-Musikgruppen zu Wort. Die Herkunftsländer der Lieder decken sich mit dem Migrantenspektrum der frühen 90er Jahre, berücksichtigen also noch kaum Osteuropa, arabische und afrikanische Länder. Viele Lieder entsprechen Irmgard Merkts Konzept, das fordert, dass zum Einstieg in eine Unterrichtseinheit musikalische „Schnittstellen“ gefunden werden sollen.
Während die meisten Liederbücher von einem musikalisch konventionellen Sing-Sang ausgehen, wartet Lorenz Maierhofer in seinen „Ethno-Kanons“ (Helbling[viii], 2002) mit einem alternativen Konzept auf. Für ihn ist die Basis des Singens ein körper- und atembetontes Warm-Up gefolgt von Elementarbewegungen, in die sich einfachste musikalische Liedfragmente einhaken. Das elementarisierte musikalische Material wird zu kleinen Kanons verarbeitet und „groovig“ ausgebreitet. Probleme mit Aussprache oder der Bewältigung eines umfangreichen Textes gibt es nicht. Auch wenn der Autor keine „Kulturinformation“ zu den Ethno-Kanons liefert, so wird hier doch ein Zeitbewusstsein vermittelt, das in Mitteleuropa eher verloren gegangen ist und meines Erachtens eine wichtige archetypische interkulturelle Erfahrung darstellt.
Fazit
Hinter den Erwartungen der Kinder an ihren Musikunterricht steht der Wunsch, sich sowohl „die Welt der Musik“ aneignen als auch mittels Musik „die Welt erobern“ zu können. Die Welt: das ist die Welt der Großen, die Welt der Medien und die „wirkliche“ Welt. Wenn die Musiklehrerin diese Erwartungen der Kinder befriedigen will, muss sie die auf dem Markt befindlichen interkulturellen Materialien sich offensichtlich selbst erst einmal aneignen. Es scheint derzeit kein optimales, in einem Materialpaket kondensiertes Konzept auf dem Markt zu geben, das allen aktuellen Ansprüchen interkultureller Musikerziehung genügt und ohne Weiteres anwendbar wäre.
Endnoten:
[i] Konkretisierung siehe unseren Beitrag zur „Tarantella“. (siehe "Materialien"!)
[ii] Daniela Benne: „Lieder aus aller Welt“ in Musiklehrwerken für die Grundschule. Examensarbeit Oldenburg 2005.
[iii] Auf der CD-ROM befindet sich eine Excel-Tabelle mit 1065 Liedern.
[iv] www.weltmusik-fuer-kinder.de und www.oekotopia-verlag.de
[v] Johnny Lamprecht: www.trommelzauber.de, Pit Budde und „Karibuni“: www.karibuni-kinderweltmusik.de, Wolfgang Hering: www.wolfganghering.de
[vi] Genaue „Tanzanleitung“ bei Adamek/Merkt „rüzgargülü“, S. 101-103. Ungenügende Anleitung bei Sybille Günther „iftah ya simsim“ (Ökotopia, 1999), S. 13, und mehrfach in Michael Hepps „Tänze im Kreis (Fidula, 1999).
[vii] www.fidula.eu
[viii] www.helbling.com