- Welcher Zusammenhang besteht zwischen anti-rassistischer und interkultureller Pädagogik?
- Welche Kritik hätte die anti-rassistische Musikerziehung an den übrigen Konzepten interkultureller Musikerziehung zu üben und welche Konsequenzen hieraus zu ziehen?
- Welche Konzepte hat die Musikpädagogik für Friedenserziehung und für anti-rassistische Erziehung bisher entwickelt? Decken sich diese mit Konzepten der interkulturellen Musikerziehung?
- Welche Unterrichtsmaterialien stehen zur Verfügung? Wie sind diese weiter zu entwickeln? In welchem Verhältnis stehen diese Materialien zu den allgemein gängigen" interkulturellen Materialien?
Modell 9. "Interkulturelle Musikerziehung soll antirassistische Erziehung sein!"
Die Definition und damit das Verständnis von Rassismus hat sich (ebenso wie die Definition von Antisemitismus) zwischen 2003 und heute (2023) erheblich verändert.
Prototypisch für die "alte" Rassismus-Definition ist das nach wie vor empfehlenswerte Buch von Erika Funk-Hennings (1996, 2. Auflage): "Rassismus, Musik und Gewalt:
Ursachen - Entwicklungen - Folgerungen". Hier wird Rassismus mit Rechtsradikalismus und mit Gewalttätigkeit in Verbindung gebracht. Ein Normalbürger kann demzufolge selbst entscheiden, ob er "rassistisch" oder
nicht-rassistisch oder sogar aktiv anti-rassistisch sein und handeln will.
Die Ausweitung
des Rassismus-Begriffs auf "strukturellen Rassismus" im Zuge des "racial turns" (Shankar Raman 1995: "weg von Rasse als
biologischem Konstrukt hin zu Rasse als sozialer Position") beherrscht seit einigen Jahren die Diskussion um Rassismus und dringt
inzwischen auch in die Musikpädagogik vor (so erstmals im Themenheft "Rassismus" von Musik & Unterricht 151, April 2023). Danach ist es nicht mehr so einfach wie
früher nicht-rassistisch zu sein und zu handeln. Die Hardliner sagen, dass alle Weißen "strukturell" rassistisch sozialisiert sind - und auch die anti-rassistische Erziehung ist,
wenn nicht sogar unmöglich, so doch erheblich neu zu fassen, denn das Weiße Erziehungssystem ist ja mit daran Schuld, dass alle Weißen Deutsche Mitakteure von Alltagsrassismus sind.
Der "alte Text" auf der vorliegenden Plattform stammt im Kern aus dem Jahr 2003 und enthielt folgende Fragen:
Ergänzung 2023:
Die am weitesten (genauer: an 4.000 Schulen "praktizierte") Definition von "Rassismus" wird heute vom Netzwerk Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage betrieben, vor allem in der Broschüre: Broschüre vom 27. April 2023 " Rassismus". Programmatisch heißt es im Sinne des "racial turns": "Rassismus ist tief in die Strukturen der Gesellschaft und in die Köpfe und Herzen vieler Menschen eingeschrieben. Doch wir sind davon überzeugt, dass Rassismus, Antisemitismus und Diskriminierung überwunden werden können, auch wenn Willensbekundungen, Sprachkritik und individuelle Verhaltensänderungen allein dafür nicht ausreichen." Gegenüber den oben bereits zitierten Hardlinern ist diese Position in zweifacher Hinsicht abgeschwächt: zum einen sind nur "viele" und nicht "alle Weißen" Menschen Rassisten, zum andern wird der Schule noch die Chance gelassen, eine Alternative zu einer strukturell rassistischen Sozialisationsinstanz zu sein. - Auf die Frage "Beschäftigt ihr euch nur mit den bösen Deutschen?" antworten die Schulen gegen Rassismus: "Nein. Wir sind davon überzeugt, dass alle Menschen, egal woher sie kommen und wie sie aussehen, in der Lage sind zu diskriminieren. Deshalb nehmen wir zum Beispiel den Antisemitismus oder die Homosexuellenfeindlichkeit eines Jugendlichen der Mehrheitsgesellschaft genauso ernst wie den eines Jugendlichen mit türkischen oder arabischen Wurzeln."
Die Verpflichtungserklärung einer Schule gegen Rassimus ist eine operationalisierte Definition von Rassismus überhaupt:
Wer sich zu den Zielen einer Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage bekennt, tritt ein für folgende Selbstverpflichtung:
1. Ich werde mich dafür einsetzen, dass es zu einer zentralen Aufgabe meiner Schule wird, nachhaltige und langfristige Projekte,
Aktivitäten und Initiativen zu entwickeln, um Diskriminierungen, insbesondere Rassismus, zu überwinden.
2. Wenn an meiner Schule Gewalt geschieht, diskriminierende Äußerungen fallen oder diskriminierende Handlungen
ausgeübt werden, wende ich mich dagegen und setze mich dafür ein, dass wir in einer offenen Auseinandersetzung mit diesem Problem gemeinsam Wege finden, zukünftig einander zu achten.
3. Ich setze mich dafür ein, dass an meiner Schule ein Mal pro Jahr ein Projekt zum Thema Diskriminierungen durchgeführt wird, um langfristig gegen jegliche Form von Diskriminierung, insbesondere Rassismus, vorzugehen.
Die musikpädagogischen Fragen von 2003 (siehe oben) sind auch 2023 noch nicht hinreichend beantwortet. Einen ersten Ansatz bietet das Themenheft "Musik und Rassismus" von "Musik und Unterricht 151", 1/2023.
Hier wird zwar (noch) nicht von "strukturellem Rassismus" gesprochen, jedoch bereits mit postkolonialen Perspektiven argumentiert.
Eine Arbeitsdefinition von Rassismus im Themeheft von "Musik und Unterricht 151" (April 2023), S. 44: Rassismus = Ideologie von Herrschaft und Dominanz einer Menschengruppe gegenüber einer anderen.
In der künstlerischen Darstellung können folgende Erscheinungen beobachtet werden, die man als rassistisch bezeichnet:
Meine Kritik an diesem - wohl tatsächlich 2023 "aktuellen" - Stand der Diskussion um eine anti-rassistische (interkultruelle) Musikerziehung ist dieselbe, die ich auch am (nicht erweiterten) Schnittstellenansatz geübt habe: Die kritische Diskussion des Hintergrundes von Musik wird "nachgereicht" und in eine weder handlungs- noch schülerorientierte Diskussion verlagert. Es ist klar, was noch aussteht ... und von Menschen, die den erweiterten Schnittstellenansatz verstanden haben und praktizieren, nachgereicht werden müsste: Materialien und Unterrichtsvorschläge, die Rassimus in der Musik mit Mitteln wie denjenigen der Szenischen Interpretation zur Disposition stellen ohne selbst rassistisch zu sein.
Es bleibt ein schwacher Trost:
Auch ohne den latenten und strukturellen Rassismus in der Musik pädagogisch direkt anzugehen, kann die Interkulturelle Musikerziehung in einem allgemeineren Sinne als anti-rassistische Musikerziehung verstanden werden. Hier gilt im wesentlichen dasselbe, was ich zum Thema "Friedenserziehung" geschrieben habe: die Interkulturelle Musikerziehung bereitet ein fruchtbares Umfeld und leistet gute Vorarbeit für eine im engen Sinne anti-rasssitsiche Erziehung. (Zur Friedenserziehung hieß es: "Interkulturelle Musikerziehung ist Friedenserziehung in einem sehr weit gefassten und indirekten Sinn. Sie ist daher nachhaltig und langfristig effektiv.") Es kann nicht schaden, wenn Musiklehrer*innen sich bei der Vorbereitung des Unterrichts folgende Fragen stellen:
Frage 1: ist die Musik (latent, strukturell oder explizit) rassistisch?
Frage 2: ist meine Methode, mit der ich Musik behandle strukturell rassistisch?
Frage 3: ist meine Begeisterung für "fremde Musik", mein Umgang mit Schüler*innen und meine Schule strukturell rassistisch?
Zur Frage, ob bzw. wann oder wo Interkulturelle Musikerziehung selbst rassistisch ist, siehe auch Modell 16 "Reflexive Interkulturelle Musikerziehung", sowie die extra Bücherliste.
Modell 9a. "Interkulturelle Musikerziehung soll Erziehung gegen Antisemitismus sein"!
Antisemitismus wird heute oft als eine Form von Rassismus interpretiert (pontiert von jüdischer Seite aus bei in dem Buch "Und die Juden" von David Baddiel (2021), dessen originaler Titel hieß "
Jews Don't Count"). In der aktuellen "Rassismus"-Broschüre des
Netzwerkes "Schule gegen Rassismus" plädiert Gideon Botsch ebenfalls dafür, Rassismus und Antisemitismus nicht strikt gegeneinander abzugrenzen: "Antisemitismus, so zeigt sich, ist ein Querschnitts
thema. Er kann rassistisch motiviert sein oder mit
rassistischen Praktiken und Ideologien einhergehen.
Doch er muss als eigenständiges Phänomen ernstge-
nommen und bekämpft werden".
Die Meinung, dass Rassismus und Antisemitismus etwas grundsätzlich verschiedenes sind, ist jedoch ebenfalls sehr verbreitet, z.B. von Julia Bernstein im Buch "Antisemitismus an Schulen in Deutschland. Befunde – Analysen – Handlungsoptionen" (Beltz Juventa, Weinheim 2020). Siehe die Tabelle aufgrund dieses Buches hier. In jedem Fall wird der Rekurs auf den veralteten Rassen-Begriff (der Nazis etc.) abgelehnt.
Seite 2020 hat Max Czollek Aufsehen erregt mit seiner Kritik an der deutschen Gedächtniskultur (Stichwort: "Gedächtnistheater", "Versöhnungstheater"). Ich selbst habe eine ähnliche Kritik an der aktuellen Holocaustpädagogik seit 2003/2004 mehrfach geäußert und publiziert (Downloads hier). Mein "Gegenkonzept" bestand darin, Klezmermusik als Teil Politischer Bildung zu sehen und zu unterrichten. Ich nannte das "ent-ritualisierte Holocaustpädagogik". Mehr zum Klezmer-Projekt.