Jens Knigge (2013):
"Der erweiterte Schnittstellenansatz von Wolfgang Martin Stroh"
aus Jens Knigge: Interkulturelle Musikpädagogik: Hintergründe – Konzepte – Empirische Befunde
(Online-Publikation pedocs, Stuttgart 2013), S. 50-52. Alle Rechte auch dieses Auszuges liegen beim Deutsches Institut für Internationale
Pädagogische Forschung (DIPF) www.pedocs.de
Auch Stroh kritisiert das dem Schnittstellenansatzes zugrunde liegende Kulturverständnis und stellt fest, dass die Annahme von „monokulturell sozialisierten Individuen" (Stroh 2005, S. 187) mittlerweile überholt sei. Wenngleich Stroh den Ansatz von Merkt nicht grundsätzlich infrage stellt, so bezweifelt er doch, dass der Schnittstellenansatz - trotz seiner durchaus einleuchtenden Phasenabfolge - „richtig funktioniert" (Stroh 2009, S. 2):
„Beobachtungen von Musikunterricht, Erfahrungen mit und in Lehrerfortbildungsveranstaltungen sowie die Analyse marktgängiger Unterrichtsmaterialien zu interkulturellem Lernen haben mir gezeigt, dass, je besser die Musikpraxis gelingt, die Tendenz umso eher besteht, den Schritt von der Motivation (der Musikpraxis; JK] zum eigentlich interkulturellen Lernen zu vernachlässigen." (Stroh 2009, S. 2)
Strohs zentrale Kritik lautet demnach, dass in einem interkulturellen Musikunterricht nach dem Schnittstellenansatz zwar „,multikulturelle' musikpraktische Erlebnisse inszeniert, diese Erlebnisse aber nicht zu interkulturellen Erfahrungen verarbeitet werden" (Stroh 2005, S. 190). Hierfür sieht er vor allem zwei Ursachen (u. a. Stroh 2001):
Stroh benennt die hohen moralischen, politischen und pädagogischen Ansprüche an den interkulturellen Unterricht bzw. entsprechend an den interkulturell Unterrichtenden: Durch die überhöhten Zielformulierungen auf der einen Seite (interkultureller Musikunterricht soll u. a. zu Empathie, zu Solidarität, zu kulturellem Respekt, zu tolerantem „Nationaldenken" und nicht zuletzt zu Toleranz und Offenheit befähigen; vgl. Ullrich 1997) und die ungeklärte Frage auf der anderen Seite, ob und wie diese Ziele durch Musikunterricht eingelöst werden können, würden interkulturell interessierte Musikpädagogen „geradezu gelähmt" (Stroh 2001, S. 8), hätten deshalb vermutlich häufig ein schlechtes Gewissen und flüchteten sich schließlich in „körperorientierte und rhythmisch gut aufmischende Modelle des Klassenmusizierens aus aller Welt"' (Stroh 2001, S. 8). Dadurch werde aus dem interkulturellen Musikunterricht eine „exotisch-aktionistische Veranstaltung, die allen Beteiligten Spaß macht, aber auch nicht mehr" (Stroh 2005, S. 190).
.Stroh sieht ein konkretes Problem in der Phasenabfolge des Schnittstellenansatzes. Nach seiner Erfahrung gelingen die auf das Musikmachen (Phase 3) folgenden Verarbeitungsstufen (Phasen 4 und S) oftmals nicht, denn „die Freude am Spiel wird abgetötet im analytischen Sezieren dessen, was Freude gemacht hat" (Stroh 2009, S. 2).
Stroh schlägt auf der methodischen Ebene daher zunächst eine Erweiterung bzw. Substitution vor: Er verknüpft den Schnittstellenansatz mit dem Ansatz der „Szenischen Interpretation von Musik" (Das Konzept der „Szenischen Interpretation von Musik" kann an dieser Stelle nicht im Detail erläutert werden. Eine Fülle von Publikationen findet sich auf den folgenden Internetseiten: http://www.musiktheaterpaedagogik.de, http://www.musik-for.uni-oldenburg.de/szene/., was in folgender Abbildung dargestellt ist: (linke Spalte - schwarz - der Merkt'sche Schnittstellenansatz, rechte Spalte der erweiterte Schnittstellenansatz)
Die entscheidende Modifikation besteht beim „erweiterten Schnittstellenansatz" darin, dass die Phase des Musikmachens durch ein erfahrungsorientiertes szenisches Spiel ersetzt wird, wodurch es möglich wird, Musikpraxis und Reflexion miteinander innerhalb einer Phase zu verknüpfen:
„Die Methoden der szenischen Interpretation erlauben die Verbindung von Erlebnis und Verarbeitung in einem einheitlichen Spielprozess. Sie garantieren, dass die Musikpraxis kein Selbstzweck wird. Sie betten die Musik in ihren kulturellen Kontext ein. Sie organisieren Musiklernen so, wie es im wirklichen Leben geschieht: analog, ganzheitlich, inhaltsbezogen." (Stroh 2005, S. 191)
In methodischer Hinsicht sieht Stroh also im erweiterten Schnittstellenansatz die Möglichkeit, die Aufteilung von Musikpraxis und Reflexion zu überwinden und dadurch über das Erleben hinaus zu interkulturellen Erfahrungen zu gelangen. Gleichzeitig kommt dadurch den musikpraktischen Anteilen ganz grundsätzlich ein anderer Stellenwert zu. Es geht nun weniger um „die Musik", sondern um musikalisch handelnde Menschen, um den Kontext der Musik: „Das Paradigma, das hinter dieser Prioritätensetzung steht, ist die Auffassung, dass Musik eine dialektische Aneignung von Wirklichkeit ist" (Stroh 2009, 7). In engem Zusammenhang steht damit nun auch eine Neujustierung der Interkulturellen Musikpädagogik, die von Stroh als Grundprinzip jeglicher Musikerziehung beschrieben wird und zwar in dem Sinn, dass es im Musikunterricht immer um die Auseinandersetzung mit „dem Fremden" geht - oder wie Jürgen Vogt es formuliert: „Die Frage nach dem musikalisch Fremden ist die musikpädagogische Grundfrage schlechthin" (Vogt 2004, S. 305). Als eine logische Konsequenz richtet sich eine derart verstandene Interkulturelle Musikpädagogik auch nicht mehr nur an Klassen, in denen besonders viele Schüler mit Migrationshintergrund vertreten sind, sondern ist für jeglichen Musikunterricht und für alle Schüler gedacht. Stroh (u. a. 2002) schlägt außerdem als neue Zieldimension das Konstrukt der „multikulturellen Handlungskompetenz" vor: „Schüler/innen soll(t)en durch den Musikunterricht befähigt werden, sich die Wirklichkeit einer kulturell globalisierten Welt und der multikulturellen Gesellschaft aktiv, bewusst, selbstbestimmt und sozial aneignen zu können" (Stroh 2009, S. 7). Die so definierte multikulturelle Handlungskompetenz ist für Stroh dann auch das Bindeglied zwischen dem durch Unterricht realistischerweise Leistbaren und dem pädagogisch-gesellschaftlich Wünschenswerten:
„Die Grundprämisse pädagogischen Handelns ist, dass, wer multikulturell handlungskompetent ist, auch einen positiven Beitrag zur Entwicklung des Ideals der multikulturellen Gesellschaft leisten kann und wird. Auf dieser Prämisse baut die aktuelle interkulturelle Musikerziehung auf."(Stroh 2002, S. 5)
Stroh ist damit einerseits einer der wenigen, die explizieren, wie das Verhältnis von Zieldimensionen und Unterrichtskonzeption im Rahmen der Interkulturellen Musikpädagogik gedacht werden kann. Andererseits gibt er damit einen Lösungsvorschlag für das von ihm genannte Problem der überhöhten Forderungen an den Musiklehrer (s. o.). Dieser muss sich nun mit seinem Unterricht nicht mehr für den sozialen Frieden in der Gesellschaft „verantwortlich" fühlen, sondern kann sich darauf konzentrieren, dass interkultureller Musikunterricht Kompetenzen aufbaut, die (möglicherweise) dann hilfreich sind für die Erlangung von Offenheit, Toleranz etc.
Abschließend ist festzuhalten, dass mit dem erweiterten Schnittstellenansatz ein anspruchsvoller und umfassender Versuch vorliegt, ein theoretisch begründetes Konzept hinsichtlich Unterrichtsmethodik und (Unterrichtsmaterialien) auszuarbeiten und anschließend in der Praxis zu erproben und zu evaluieren. Zu grundsätzlichen Aspekten der Konzeptentwicklung (bei Stroh) siehe: http://www.musik-for.uni-oldenburg.de/kwf.html;, Forschungsprojekte zur Erprobung und Evaluierung des erweiterten Schnittstellenansatzes sind dokumentiert: hier . Gleichzeitig ist das Konzept aber noch relativ jung und in der (Weiter-)Entwicklung begriffen. Wenngleich in den letzten Jahren mehrere Publikationen zum erweiterten Schnittstellenansatz vorgelegt wurden (v. a. Stroh 2005; 2009), so steht eine umfassende und kritische Diskussion desselben im musikpädagogischen Diskurs bislang noch aus.