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Dorothee Barth
(aus der Neuen Zeitschrift
für Musik 7+8/2017, S. 23)
Das Musikleben in
Deutschland ist bunt und vielfältig. Zeugnis dafür liefern in jüngster Zeit
nicht zuletzt die Eröffnungskonzerte der Elbphilharmonie in Hamburg, in denen
neben einer Vielzahl von Konzerten mit klassischer Kunstmusik ebenso Punk,
Pop, HipHop, viele Spielarten des Jazz, experimentelle
und orientalische Musik zu hören waren. Und nicht nur dort ist zu beobachten,
dass sich musikalische Stilistiken, Genres und
Kulturen immer weiter verzweigen, ausdifferenzieren und sich mitunter weltweit
mischen in stets neuen Fusionen und Crossovers. Dabei
entstehen Wechselwirkungen zwischen lokalen Traditionen, die globale Trends
bearbeiten, und globalen Entwicklungen, die Lokales aufnehmen und
weiterentwickeln.
Auf den Wert und den Schutz
musikkultureller Diversität hat auch der Deutsche
Musikrat bereits in seinem 2. Berliner Appell aus dem Jahr 2005 hingewiesen, in
dem er sich unter anderem verpflichtete dazu beizutragen, „die Kulturelle
Vielfalt als Reichtum und nicht als Bedrohung in den Köpfen und Herzen der
Bürgerinnen und Bürger bewusst zu machen." Auch der Bundesverband Musikunterricht,
der sich dem musikalischen Leben an allen Schulen verpflichtet fühlt, betont in
seinem Grundsatzpapier „Für musikalische Bildung an Schulen. Agenda'-9030"'
die Vielfalt des Musiklebens, das sich „zwischen Pflege, Bewahrung und
Aktualisierung musikalisch-kultureller Traditionen auf der einen und der
Innovation von Stilistiken, Distributionsmechanismen
und Musizierhaltungen auf der anderen Seite" entfalte. Seine Aufgabe
sieht der BMU folglich darin, Orientierungen zu schaffen: Die Schülerinnen und
Schüler sollen unterschiedliche musikalische Stilistiken,
Genres und Kulturen erleben und reflektieren, „um begründete Entscheidungen
für Verortungen zu treffen." Der Musikunterricht an den allgemeinbildenden
Schulen soll also auf eine mündige Teilhabe und Gestaltung des vielfältigen
Musiklebens in Deutschland vorbereiten. Doch wenn dieses Ziel den Unterricht
leitet, kann über eine fachimmanente Bildung hinaus noch viel mehr erreicht
werden. In besonderer Weise hat sich in den letzten Jahren die Interkulturelle
Musikpädagogik mit der alten, immer wieder neuen und auch zum jetzigen Zeitpunkt
hochaktuellen (Heraus-)Forderung auseinandergesetzt, wie die deutsche
multikulturelle Gesellschaft gestaltet werden kann, damit sie für alle
Mitglieder eine Heimat sein kann. Und damit allen Mitgliedern die gleichen
Chancen zum gelingenden Leben eröffnet und als unverzichtbare Bedingung einer
Demokratie konsequent Möglichkeiten, Orte und Räume zum Dialog und zum
gedanklichen Austausch angeboten werden. Als kleine Disziplin kann die
Interkulturelle Musikpädagogik im Kontext dieser großen Themen wesentliche Orientierungspunkte liefern.
Musikalische Identitäten
Denn anders als die
unseligen Debatten, wie etwa um die Abschaffung der doppelten
Staatsbürgerschaft, um das „Ja oder Nein zu Erdogan" oder neuerdings
wieder um die deutsche Leitkultur, die die
Gesellschaft polarisieren und spalten, ist es schon lange ein wichtiges Ziel
der Interkulturellen Musikpädagogik, allen Kindern und Jugendlichen und
gerade auch denen mit einem Migrationshintergrund deutlich zu machen: Ihr müsst
euch nicht entscheiden! Ihr könnt in mehreren unterschiedlichen musikalischen
Kulturen eine Heimat finden - sowohl in der westlichen klassischen Musik als
auch in der türkischen Volksmusik, dem arabischen oder amerikanischen HipHop, dem Heavy Metal oder der
italienischen Oper. Denn - so weiß man - stabile Identitäten in globalisierten
und multikulturellen Gesellschaften müssen in der Lage sein, diese Integrationsleistungen
zu vollbringen. Dass eine solche Fähigkeit nicht nur für das eigene
Wohlbefinden, sondern auch für berufliche und soziale Anerkennung sorgen kann,
zeigen Untersuchungen, in denen nachgewiesen wurde, <lass Menschen mit
einem hohen sozialen Status und gesellschaftlichem Ansehen ohnehin eher zu
den sogenannten „musikalischen Allesfressern" zählen. Damit sind Menschen
gemeint, die ihre musikalisch-kulturellen Identitäten aus einem breiten
Angebot musikalischer Kulturen und Stilistiken
selbstbestimmt ausbilden und sich dabei auch stark voneinander unterscheiden
können. Schließlich sind auch etliche Musikerinnen und Musiker, die dieses
Land bespielen, wie auch viele Hörerinnen und Hörer in verschiedenen
Musikkulturen zu Hause: So kann eine Person heutzutage einigermaßen
widerspruchsfrei klassische Musik auf dem Klavier spielen, auf dem Weg zur
Arbeit Elektro hören, Mitglied in einer CapoeiraTanzgruppe sein, mit syrischer Volksmusik die
neuen Nachbarn kennenlernen, „atemlos" durch den Park joggen und
Abonnentin der Konzertreihe eines Sinfonieorchesters sein.
Die unterschiedlichen
musikalischen Interessen und Vorlieben mögen auf den ersten Blick beliebig erscheinen,
doch tatsächlich sind sie etwas viel Wesentlicheres: Sie bilden die
einzigartige musikalische Identität eines Menschen, dessen großartige Leistung
es ist, diese musikalische Identität auszubilden, zu reflektieren und zu
erweitern. Dabei wird er sich einmal vollkommen auf die eine musikalische
Praxis konzentrieren und ein anderes Mal ganz andere Prioritäten und
Schwerpunkte setzen. Und sich auf keinen Fall verunsichern lassen durch
unterschiedliche oder sogar gegensätzliche musikalische Vorlieben, Aneignungen
und Bewertungen, sondern sie zusammen denken und zu einem Gesamtbild
integrieren.
Der Sorge, dass in dieser
Vorstellung von musikalischer Identität Musiken ungeachtet ihrer
„Qualitäten" gleichberechtigt nebeneinander stehen können, kam ein guter
Musikunterricht mit einer Thematisierung der jeweiligen Qualitätskriterien
begegnen. Unhintergehbar muss er sich in seiner Themensetzung an dem
vielfältigen musikalischen Leben in Deutschland orientieren und nicht -
angetrieben durch eine vermeintliche Höherwertigkeitsvorstellung
der klassischen Kunstmusik - an der persönlichen Sozialisation einzelner
Musiklehrkräfte.
Die oben vorgenommene Beschreibung einer
musikalischen Identität ist angelehnt an eine Stelle aus dem Buch „Die
Identitätsfalle" von Amartya Sen. Dort heißt es:
„Eine Person kann ganz widerspruchsfrei amerikanische Bürgerin, von
karibischer Herkunft, mit afrikanischen Vorfahren, Christin, Liberale, Frau,
Vegetarierin, Langstreckenläuferin, Historikerin,
Lehrerin, Romanautorin; Feministin, Heterosexuelle,
Verfechterin der Rechte von Schwulen und Lesben, Theaterliebhaberin, Umweltschützerin,
Tennisfan, Jazzmusikerin (...) sein." Mit diesem anschaulichen Beispiel
will Seil deutlich machen, dass die Identität eines Menschen nicht auf seine
Herkunft oder Staatsangehörigkeit reduzierbar ist,
sondern sich aus vielen Aspekten zusammensetzt. Diese wiederum können mit
unterschiedlichen Menschen innerhalb und außerhalb des Landes, in dem man
lebt, kulturelle Schnittmengen entstehen lassen. Aber so leicht es
nachzuvollziehen ist, dass eine musikalische Identität nicht. das Bekenntnis zu
einer Musikkultur verlangt, so verlockend scheint es neuerdings manchen
Politikern, von Menschen mit einem Migrationshintergrund das Bekenntnis zu
einer Staatsangehörigkeit zu fordern.
Hier wie da verhindern polarisierende
Entscheidungserzwingungen notwendige Integrationsleistungen und befördern das
extreme „Kippen" auf die eine oder andere Seite. Wer einseitige
Entscheidungen für etwas einfordert, nimmt in Kauf, dass diese Entscheidung
auch gegen etwas gefällt wird. Viele türkischstämmige Jugendliche in
Deutschland beispielsweise möchten sich nicht entscheiden, denn sie schätzen
ihre deutsche und ihre „orientalische" Seite und sind gut in der Lage,
diese zu integrieren. Weder wollen sie sich
gegen das Land ihrer Vorfahren entscheiden noch gegen das Land, in dem sie
aufgewachsen sind und in dem sie ihre Zukunft sehen - wohl aber für beide
Länder. Kein geringerer als Kofi Annan warnte bereits im Jahre 1997 in der
Funktion als UNO-Generalsekretär vor einer falsch verstandenen Identitätspolitik
als einer „Bedrohung des Friedens und des Fortschritts des gegenwärtigen
Zeitalters".
Mündige Teilhabe
Damit sich Jugendliche mit
verschiedenen Musiken und ihren eigenen musikalisch-kulturellen Identitäten in
einer reflektierenden, vermittelnden oder forschenden Haltung explizit
beschäftigen können, werden für den Musikunterricht unter anderem Unterrichtsprojekte
empfohlen, in denen Erfahrungsräume für die Wahrnehmung von Musik geöffnet und
ein kreatives Arbeiten ermöglicht werden - zum Beispiel die Erstellung eines Klassensongs, das Komponieren von thematischen
Klangcollagen am Computer oder das Malen, Bewegen und sogar Schreiben zur
Musik.; Und auch bei allen anderen Orientierungen oder exemplarischen
Vertiefungen sollten die Schüler verstehen, dass ihnen - vermittelt durch die
„Sache" Musik- Identitätsangebote gemacht werden, die sie annehmen
können, aber nicht müssen. In der Regel zeigen Schülerinnen ihrerseits dann
auch die grundsätzliche Bereitschaft, sich auf verschiedene Musiken vertieft
einzulassen, um herauszufinden, welche davon sie sich zu eigen machen möchten.
Eine Interkulturelle
Musikpädagogik bereitet auf eine mündige Teilhabe und eine aktive Gestaltung
des vielfältigen Musiklebens in Deutschland vor und aktiviert so exemplarisch
zu mündiger Teilhabe an und aktiver Gestaltung von unserer multikulturellen
Gesellschaft überhaupt. Beide Aufgaben kann sie offensichtlich natürlich nicht
bewältigen - selbst wenn Musikunterricht überall im Land von der 1. bis zur
13. Klasse in diesem Sinne stattfände. Aber sie liefert ein Mosaiksteinchen dafür
und vielleicht sogar ein besonders leuchtendes: Denn Musik spielt für Jugendliche
bei ihrer Identitätskonstruktion eine tragende Rolle und Musik als Schulfach
kann mehr als andere Fächer Spielräume eröffnen, individuelle Stärken fördern
und eine Persönlichkeitsentwicklung unterstützen.
Wie so oft, wäre es auch hier schön, Politiker würden von dem Musikleben in
Deutschland und der Interkulturellen Musikpädagogik lernen.
Anmerkungen
1 http://www.bmu-musik.de/publikationen/ bmu-positionen.html
2 Michael Parzer: Cultural Variety as a Resource? Musical Taste and Social Distinction
in Contemporary Cultural Sociology. In: Gies/ Heß(Hg.): Kulturelle Identität und soziale Distinktion.
Herausforderungen für Konzepte musikalischer Bildung. Esslingen 2013, S. 59-71
3 Barth, Dorothee: Was
verbirgt sich im Trojanischen Pferd? Eine Analyse von Unterrichtsmaterialien
zur Interkulturellen Musikpädagogik, in: Niessen,
Anne/LehmannWermser, Andreas (Hg.):
Aspekte Interkultureller Musikpädagogik. Ein Studienbuch, Augsburg 2014, S.
73-92.