Wolfgang Martin Stroh (2013):
Von Basiserfahrungen zur szenischen Interpretation im transkulturellen Musikunterricht - Eine Konkretisierung des "Dialogs zwischen Transcultural Music Studies und ranskultureller Musikerziehung"
Teil 1. Musikwissenschaft und Musikpädagogik
Ich gehe von einem Schema aus, das Tiago Olivera de Pinto und Maria von Adam-Schmidmeier Ende 2012 in „Musik und Unterricht“ publiziert haben :
In diesem Schema werden Kategorien der Transcultural Music Studies Konzepten der Musikerziehung gegenüber gestellt. Die Kategorien sind den Cultural Studies entnommen, die Konzepte - mit Ausnahme des „bedeutungsorientierten Kulturbegriffs“, der ebenfalls den Cultural Studies zuzurechnen ist – entstammen der Psychologie musikalischer Tätigkeit.
Gemeinsam ist beiden Seiten die Perspektive: die Cultural Studies haben denselben Musikbegriff wie die Psychologie musikalischer Tätigkeit. Beide richten ihr Augenmerk auf den musikalische tätigen Menschen und den kulturellen Kontext und nicht auf die Musik „ an sich“ .
Beide Seiten unterscheiden sich in den Zielen ihres Handelns: die Cultural Studies und damit die Transcultural Music Studies wollen Erkenntnisse gewinnen, die Musikpädagogik muss Handlungsziele für den Unterricht formulieren. Das Ziel der Musikerziehung ist im Fall des transkulturellen Musikunterrichts ein sehr allgemeines . Die Schüler/innen sollen befähigt werden,
- aktiv,
- bewusst,
- selbstbestimmt und
- sozial
in der - als „transkulturell“ diagnostizierten - Bundesrepublik Deutschland und in einer zunehmend sich globalisierenden Welt musikalisch tätig zu sein.
Bei dieser Zielsetzung kommt den Transcultural Music Studies die Rolle eines Dienstleisters zu. Sie sollen die Lebenswelt, für die die Schüler/innen befähigt werden sollen, auf eine brauchbare Weise beschreiben – und möglichst auch verwendbare „Materialien“ bereit stellen.
Die Zielsetzung impliziert die Vermutung, dass Schüler/innen
- passiv,
- unbewusst, nicht-reflektiert,
- fremdbestimmt, manipuliert und
- untereinander konkurrierend („asozial“)
mit Musik umgehen, ohne es wirklich zu wollen.
Schülerorientierung und ein konstruktivistisches Herangehen wie in der szenischen Interpretation praktiziert reichen alleine als Legitimation von inter- oder transkultureller Musikerziehung nicht aus. Irgendwann müssen wir Musikpädagog/innen auch politische Wertentscheidungen treffen. Wir müssen eine Vorstellung davon haben, was eine erstrebenswerte transkulturelle Gesellschaft und was eine „gute“ (d.h. aktive, bewusst, selbstbestimmt und sozial handelnde) transkulturelle Persönlichkeit ist.
Das bedeutet, dass die Musikpädagogik von den Transcultural Studies nicht nur eine Beschreibung, sondern auch eine politisch begründete Kritik an der transkulturellen Gesellschaft erwartet. Ich weiß, dass die Zurückhaltung in Sachen „Wertung“ einen Fortschritt in der Geschichte der Musikethnologie dargestellt hat. Aber volle Enthaltsamkeit macht die Wissenschaft handlungsunfähig.
Teil 2. Konkretisierungen
Die im obigen Schema aufgeführten Konzepte sind jeweils aus konkreten Anlässen auf der Basis der Psychologie musikalischer Tätigkeit formuliert worden:
- Der „bedeutungsorientierte“ oder – in meinen Worten – „aneignungs-theoretische“ Kulturbegriff ist, wie schon gesagt, die Grundvoraussetzung, die Perspektive, die Philosophie .
- Die Entdeckung, dass Schüler/innen Musik „konstruktivistisch“ verstehen und dass diese Art des Verstehens neue Methoden erfordert, war ein Ausgangspunkt für die szenische Interpretation.
- Der erweiterte Schnittstellenansatz ist aus Erfahrungen, die ich weitgehend in Lehrerfortbildungen gemacht habe, heraus entstanden, weil ich bemerkt habe, dass von den sieben im Schnittstellenansatz Irmgard Merkts formulierten Schritten , in der Praxis nur Schritt 2 und 3 durchgeführt wird und dies nicht an der Unwilligkeit der Musiklehrer/innen sondern am Ansatz selbst liegt .
- Zum Konzept der „eine welt musik lehre“ haben zwei Erfahrungen geführt: zum einen die Analyse der Lehrerfortbildungs-Szene, bei der zu bemerken war, dass die Motivation der Musiklehrer/innen inter- oder transkulturell zu unterrichten, sich nicht mit den „offiziellen“ politischen Anforderungen deckte ; zum anderen Beobachtungen in der Musiklehrerausbildung in Oldenburg. Dabei habe ich die Beobachtung gemacht, dass zur Motivation von Musiklehrer/innen politisch korrekte Seminare über Transkulturalität nicht ausreichen, dass vielmehr „tiefer“, an der Basis der Ausbildung und Sozialisation, im Instrumental- und Musiktheorieunterricht angesetzt werden muss .
Teil 2a. Basiserfahrungen
Basiserfahrungen in der Musiklehrerausbildung
Die „eine welt musik lehre“ geht davon aus, dass Basiserfahrungen dem Instrumental- und Musiktheorieunterricht vorangehen müssen. (Weitere Bausteine der „eine welt musik lehre“ werden hier nicht abgehandelt.) Für die Sozialisation der Musikstudent/innen bedeuten Basiserfahrungen
- emotionale Betroffenheit,
- verändertes Bewusstsein,
- ungewohnte körperliche Erlebnisse und Erfahrungen,
- das Erkennen ungewohnter durch die Musik vermittelter Zusammenhänge zwischen Körper, Seele und Geist und dadurch
- neue instrumentalpraktische Ausdrucksqualitäten.
Sechs Beispiele von „Basiserfahrungen“ in der Musiklehrerausbildung in Oldenburg. Es fehlen weitere Beispiel wie die „schamanische Reisen“ nach Harner, „Gong-Meditationen“ nach Heimrath sowie interkulturelle Meditationstechniken von Wolfgang Meyberg.
Basiserfahrungen in der Schule
Basiserfahrungen im Rahmen einer szenischen Interpretation, die einen sozialen und kulturellen Kontext re-konstruiert, sind
- ein Hauch dessen, was im „originalen“ sozialen und kulturellen Kontext selbstverständlich vorhanden aber kaum sichtbar ist, bzw.
- das, was Menschen, deren musikalische Tätigkeit im Klassenzimmer re-konstruiert werden soll, mit ihrer „kulturellen Muttermilch“ mitbekommen,
- künstliche Inszenierungen in der Schule mit dem Ziel, eine optimale Atmosphäre für die szenische Interpretation bzw. das Musikstudium zu schaffen.
„Kulturelle Muttermilch“ mit Aksak-Rhythmen der türkischen Musik – nicht alleine ein korrektes Zählen oder ein gekonntes Mitklatschen, sondern ein spezifisches Fließen in der Zeit und eine Beziehung von Musik und Körper, die nicht „four to the floor“ ist.
Teil 2b. Der erweiterte Schnittstellenansatz und die szenische Interpretation
Der erweiterte Schnittstellenansatzes beinhaltet methodisch
- die Re-Konstruktion des sozialen und kulturellen Kontextes und
- die Re-Konstruktion der musikalischen Tätigkeit in diesem Kontext.
Der Ansatz impliziert Basiserfahrungen, verwendet häufig - aber nicht zwingend - Methoden der szenischen Interpretation und unterscheidet zwischen analog-alltäglichem und digital-professionellem Lernen. Für die Re-Konstruktion ist entscheidend, dass die Schüler/innen in Rollen handeln, dass sie also mit etwas „Fremdem“ auf persönliche Weise umgehen. (Dass die Methoden der szenischen Interpretation auch eine De-Konstruktion und eine Konstruktion beinhalten, wird hier nicht weiter diskutiert.)
"Tarantella in der Schule“ nach dem erweiterten Schnittstellenansatz . Das Video zeigt die erste „Re-Konstruktion“ des sozialen und kulturellen Kontextes von Tarantella in einer konflikthaft zugespitzten Situation, die ein Tarantella-Lied wiedergibt. Die vier Stufen des erweiterten Schnittstellenansatzes sind:
- „Basiserfahrung“ als auf „Tarantella“ bezogenes WarmUp („spontanes Mitmach-Tanzen“);
- eine erste Re-Konstruktion einer Situation mittels Rollenkarten und einem Lied;
- ein kleiner „Tanzkurs“ als digitale Lernphase;
- ein szenisches Spiel unter Verwendung des digital Gelernten als Vorführung.
„Capoeira für Kinder“ nach dem erweiterten Schnittstellenansatz . Hier ist vor allem eine Abschluss-Vorführung in der Pausenhalle einer Grundschule zu sehen.
Teil 3. Probleme, Forschungsbedarf
Das Projekt der „eine welt musik lehre“ ist ohne nachhaltigen Erfolg abgebrochen worden. Das Konzept der „Basiserfahrungen“ hat sich in viele unkoordinierte Richtungen aufgelöst, seine Probleme sind nie offensiv erforscht worden. Hierunter verstehe ich folgende Fragestellungen:
- Die Frage, ob es musikalische Archetypen gibt und, wenn ja, welche das sind;
- die Frage, ob Basiserfahrungen angesichts des Phänomens von „Transkulturalität“ überhaupt noch möglich und notwendig sind;
- die Frage, ob und wie Basiserfahrungen eine szenische Interpretation im Hinblick auf deren Ziele erkennbar verbessern.
Zudem kommen ausführungstechnische Probleme wie
- die inneren Widerstände bei den beteiligten Erwachsenen;
- die vor allem zeitliche Reduktion der Methoden im Klassenzimmer;
- die Handhabung der Methoden im Hinblick auf „Psycho“;
- die Tatsache, dass Musiklehrer/innen Basiserfahrungen nicht einfach durch den Einsatz von gekauften Unterrichtsmaterialien vermitteln können.
Im Gegensatz zu den „Basiserfahrungen“ erfreuen sich der erweiterte Schnittstellenansatz und vor allem die szenische Interpretation scheinbar großer Beliebtheit. Überzeugende Unterrichtsforschung fehlt jedoch. Bekannt sind nur die Verkaufszahlen der einschlägigen Unterrichtsmaterialien und die Nachfrage bei Lehrerfortbildungen. Geht man aber davon aus, dass selbst ein „gut laufender Unterricht“, eine zufriedene Musiklehrerschaft und die Nachfrage nach Unterrichtsmaterialien noch kein hinreichendes Qualitätskriterium sind, dann sind folgende Fragen noch zu bearbeiten:
- Ist die „aktiv, bewusst, selbstbestimmt und sozial musikalisch tätige (transkulturelle) Persönlichkeit“ wirklich ein verantwortbares und tragfähiges Ziel für inter- und transkulturellen Musikunterricht?
- Sind die vorgestellten Konzepte wirklich geeignet, dies Ziel zu erreichen?
- Wenn ja, wie könnte man das Erreichen dieses Ziel empirisch feststellen?
- Sind alle Inhalte für den erfahrungsorientierten Unterricht mit den genannten Konzepten und Methoden geeignet?
Ich beende meinen Vortrag mit offenen Fragen. Blicken wir zurück zum eingangs zitierten Schema, so lässt sich sagen: auch wenn das Schema sehr stimmig aussieht, in der Praxis sind die Relationen von Erkenntniskategorien und Handlungskonzepten noch nicht vollständig abgeklärt. Darüber weiter nachzudenken wird sich lohnen.
Endnoten
1 „Wo ist das Zentrum? Transkulturelle Musikpädagogik: ein Dialog mit den Transcultural Music Studies“.
2 Vgl. Internetdarstellung der Weimarer Transcultural Music Studies: „Musik wird vorrangig als Darbietung und in ihrem spezifischen sozialen und kulturellen Kontext untersucht.“
3 Herleitung in: MusikDidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II. 3. Auflage 2012, Berlin: Cornelsen, S. 187-188 (aus Kapitel 10.1. „Musik der einen Welt im Unterricht“).
4 Diese „Diagnose“ laufend zu erstellen. Im unter iii genannten Artikel ist von „multikulturell“ die Rede.
5 Wolfgang Martin Stroh (1984): Zur Psychologie musikalischer Tätigkeit. Stuttgart: Marohl.
6 Wolfgang Martin Stroh (1999): „Ich verstehe das, was ich will!“. Handlungstheorie angesichts des musikpädagogischen Paradigmenwechsels. In: Musik und Bildung 3/1999.
8 Wolfgang Martin Stroh (2011): Der erweiterte Schnittstellenansatz. In: Festschrift Thomas Ott. München: Allitera.
9 Wolfgang Martin Stroh (2001): Ein schlechtes Gewissen macht noch keinen guten Musikunterricht. Über die Motivation, multikulturell Musik zu unterrichten. In: Diskussion Musikpädagogik 11/2001).
10 Wolfgang Martin Stroh (2000): „eine welt musik lehre“. Begründung und Problematisierung eines notwendigen Projekts. In: Musikpädagogische Forschung 21. Essen: Die Blaue Eule.
11 Terminologie nach Kerstin Reich. Vgl. Markus Kosuch (2004/2013): Szenische Interpretation und Musiktheaterpädagogik. Oldenburg: BIS-Verlag. Online-Publikation: Band 2 der Reihe „Szenische Interpretation von Musik und Theater“.
12 Siehe www.interkulturelle-musikerziehung.de/tarantella und Margherita D’Amelio und Wolfgang Martin Stroh (2012): Tarantella in der Schule. Bremen/Oldershausen: starfisch/Lugert-Verlag.
13 Melanie Meinig und Wolfgang Martin Stroh (2008): Capoeira für Kinder. Eine multimediale Lernumgebung. Oldershausen: Lugert-Verlag.