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"The Flowers Sermonize Their Sadness"

eine Komposition von Rami Chahin

Rami Chahin  im Gespräch mit Wolfgang Martin Stroh (Vorlage zu einerm Aufsatz "Irgendwie bin ich immer im Exil" in der Neuen Zeitschrift für Musik 1/2016, S. 10-13)

Im Rahmen des Musiktheaterprojekts EUNUS (AT), das Anfang November 2015 in Hamburg stattfand, wurde Ihr Stück "The Flowers Sermonize Their Sadness" erstmals in Deutschland aufgeführt. Was bedeutet der Titel?
Das Stück ist Anfang 2011 entstanden. Kinan Azmeh, der Klarinettist der Uraufführung, der gelegentlich auch in Osnabrück ist, bat mich um eine Komposition für ein Konzert mit Werken syrischer Komponisten, das im Mai im Opernhaus von Damaskus stattfinden sollte. Als dann die ersten Demonstrationen in Syrien anfingen und sofort brutal niedergeschossen wurden, war es selbstverständlich, dass ich in jenem Konzert an einem renommierten Ort zu diesen Vorgängen Position beziehen musste. Der Titel ist  wie das ganze Stück eine Art geheimer Botschaft, wie sie Musiker in Diktaturen zu vermitteln trachten. Die "flowers" sind Jasminzweige, Symbole der Revolution. Und die "ceremony" ist eine Chiffre für "Protestzug" oder einfach "Freiheit". Daher besagt der Titel für alle, die diese Symbole verstehen, dass dies Stück sich mit der Tragik dieser Ereignisse auseinandersetzt und eine musikalische Demonstration für Freiheit sein soll.

Wurde das Stück denn in Damaskus aufgeführt?
Ja, die "Damascus Festival Chamber Players" haben das Stück unter großem Beifall aufgeführt. Der Satellitensender "Masaya TV" hat einen Mitschnitt sogar ins Internet gestellt (Link hier). Das Publikum, das geklatscht hat, dürfte aber nur zum Teil verstanden haben, was gemeint war. Da ich am Ende des Stücks ein musikalisches Motiv aufgreife, das einem bekannten Protest-Ritual entnommen war, hatte ich den Musikern frei gestellt, selbst zu entscheiden, ob sie das Stück bis zu Ende spielen wollen oder es frühzeitig abbrechen. Sie haben aber alles gespielt. Übrigens war dies die letzte Aufführung eines meiner Werke in Syrien.

Wenn ich nun die Komposition selbst auf den Hintergrund der ersten Proteste in Syrien beziehe und noch gar nicht daran denke, dass und wie sich diese Proteste zu einem Krieg entwickelt haben, dann entdecke ich da neben sehr zurückhaltend filigranen Passagen sowohl einzelne arabisch anmutende Melodien als auch Klangblöcke, die das Geschehen abrupt unterbrechen. Gegen Ende entwickelt sich dann aus einer Art Polyphonie ein "Call and Response" mit deutlich mikrotonalem Einschlag.
Die Protestmotive können Sie auf Youtube hören und sehen (Link hier!). Da werden Städte, in denen Demonstrationen stattgefunden haben, genannt, zum Beispiel "Aleppo, wir unterstützen dich - Homs, wir unterstützen dich" usw. In der Komposition, in der der Text fehlt, wird diese Art der Unterstützung verallgemeinert. Schließlich war ich ja auch nicht mit dabei, sondern befand mich in Deutschland, als ich das Stück komponierte. Das Stück beginnt einigermaßen unorganisiert, viele Ideen gehen einem im Kopf durcheinander, und alles ist von Angst geprägt - so wie es mir damals erging. Die kleine Figur, die sich hörbar herausschält ist metallisch wie das Militär. (Übrigens habe ich diese Passagen, die in Damaskus für Streicher und Klarinette komponiert waren, jetzt in Hamburg für Posaune und Horn gesetzt, um den Zusammenhang von Luftholen und Angst zu betonen.) Die Klarinettenmelodie, die in der Mitte des Stücks auftaucht, stellt die Einsamkeit dar, soll aber auch mit dem arabischen Duktus für "Mutter und Kind" stehen. Der Schluss bringt die bekannte Musik aus der Protestbewegung in einem mikrotonalen Kontext. Der Satz ist polyphon... und wirkt einerseits sehr kompakt, ist andererseits aber wie ein "Gesang von Jung und Alt", ein Gesang, an dem das ganze Volk teil nimmt. Überhaupt gibt es einige ausgeprägte Melodien, bei denen ich daran gedacht habe, dass das syrische Publikum bei jedem Werk avantgardistischer Musik immer nach etwas "Traditionellem" sucht - und das sind dann Melodien, die ich zwar frei erfinde, die aber doch an bekannte arabische Melodie erinnern und einen prägnanten Maqam repräsentieren.

Download des gesamten Gesprächs hier (pdf).

Rezension der UA der Opernfragmente EUNUS (AT): Syrische Rebellion als Hamburger Musiktheater

Als dies Musiktheater komponiert, geplant und einstudiert wurde, hat wohl niemand geahnt, dass die Botschaft des syrischen Komponisten Rami Chahin und des Hamburger Regieteams durch die alltäglichen Fernsehbilder aus Syrien an Brutalität überboten werden würde. Und dennoch blieb das Publikum der Uraufführung von "Eunus" lange Zeit stumm sitzen, nachdem der letzte Ton verklungen war. Der seit 2007 in Oldenburg lebende  Komponist Rami Chahin hatte bereits 2008 das Libretto für einen syrische "Nationaloper" geschrieben, die am "Dar al-Assad for Culture and Arts" in Damaskus aufgeführt werden sollte. Nun  kam  im "reonanzen-raum" des Hamburger Hochbunkers der zweite Akt dieser dem Phönizier Kadmos gewidmete Oper unter stark veränderten Umständen zur Uraufführung.
Den Rahmen des jetzigen Musiktheater-Abends bildete das vor-islamisches Helden-Epos "Antara", das in der ursprünglichen Oper von einem Damazener Geschichtenerzähler vorgetragen wird, um die archaische Zurückgebliebenheit der arabischen Welt zu entlarven. Die Hamburger Inszenierung projizierte nun die Geschichte auf die aktuellen Ereignisse. Neben dem opulenten Orchester, das mit einer hoch komplexen Partitur zu kämpfen hatte, neben einer Sängerin, die auch Mikrotöne beherrschen musste, spielte eine Gruppe Hamburger Bürger syrischer Abstammung. Sie repräsentierten einerseits das Caféhaus-Ambiente der Geschichte in der Geschichte, trugen andererseits auf überzeugend authentische Weise dazu bei, dass das Publikum "Antara" als Chiffre des aktuellen Geschehens in Syrien versteht. Die multimedialen Projektionen, die laufend auf den syrischen Bürgerkrieg hinweisen, fallen gegenüber dieser Art Authentizität ab.
Das Produktionsteam Jana Beckmann und Martin Mutschler hatten die Partitur des Opernaktes mit weiteren Kompositionen Rami Chahin angefüllt. Allen voran die 2012 entstandene Komposition "Eunus", die dem Abend auch den programmatischen Titel gab. So endete der Theaterabend auch mit der lapidaren Ansage eines Hamburger Syrers: "Eunus kam aus Syrien und führte den ersten Sklavenaufstand der Geschichte gegen die Römer an". Die Idee des "Aufstandes" sollte sich in die multimedial kommentierte Darstellung des Helden "Antara" musikalisch einfügen.
Die Intention des Komponisten, dessen spektrale Musik sich als ausgesprochen bühnenwirksam und facettenreich erwies, war aber eigentlich das Gegenteil solcherart Zeigefingerbotschaft. Dennoch ließ er sich bei der Uraufführung von einem beeindruckten Publikum feiern, das den großen Aufwand dieser Produktion zu würdigen wusste. Allen voran galt die Begeisterung Lisa Schmalz, die als Geschichtenerzählerin einen akrobatischen Gesangspart mit der Selbstverständlichkeit eines Geschichtenerzählers absolvierte. Fast unbegreiflich erschien auch die Leistung des Orchesters, das unter Leitung von Daniel Moreira eine Partitur, die avantgardistische Komplexität, arabische Mikrotonalität und eher improvisierte Musik der syrischen Laiendarsteller zu einer überzeugenden Einheit zusammenführte. Zudem mussten die Musiker, die alle in einer schwarzen Kampfanzug steckten, immer wieder salutieren. Jana Beckmann und Martin Mutschler, die das ganze Projekt entwickelt und zum richtigen Zeitpunkt auf die Bühne des Hochbunkers gebracht haben, konnten zufrieden sein.